Roman Weidenfeller beachtete nicht den Lärm in der monumentalen Betonschüssel, wo die Menschen der Mannschaft von Real Madrid noch ausdauernd Applaus klatschten. Rücklings lag der Schlussmann von Borussia Dortmund auf dem Rasen. Wie weggetreten. Auf der gegenüberliegenden Seite im Estadio Santiago Bernabeu hatte sein Kollege Diego Lopez genau dieselbe Position eingenommen. Kauerte auf dem Grün und nahm die jubelnde schwarz-gelbe Menge hinter ihm gar nicht wahr. Zu tief saß die Enttäuschung über diese verpasste Chance. "In diesem Moment ist alles von mir abgefallen", berichtete Weidenfeller später, "alle Emotionen, all das Glück. "Und bei seinem Keeper-Kollegen all die Trauer.
Momentaufnahmen nach einem Champions-League-Halbfinale, das noch lange Nachhall finden wird. Nicht nur bei den beiden Ballfängern. "Ich muss mich noch zwicken, um das alles zu begreifen. Das wird ein paar Tage dauern", sagte der 32-jährige Weidenfeller, für den die Metamorphose der Dortmunder Borussia vom früheren Pleitekandidaten zum aktuellen Finalisten der Königsklasse am 25. Mai in London auch deshalb so unwirklich wirkt, "weil ich ja noch dabei war, wie wir in der Bundesliga gegen den Abstieg gespielt haben."
"Das hätte uns vor fünf Jahren niemand zugetraut"
Das ist eben keine Lichtjahre her. Und auch Michael Zorc der Sportdirektor erinnerte an diesem entrückten Abend in der spanischen Hauptstadt, in der die zigtausenden BVB-Fans einfach nicht ins Bett gehen wollten und die schönste 0:2-Niederlage der Vereinsgeschichte feierten, an die jüngere Vergangenheit. "Wir haben uns eine unfassbare Reputation erarbeitet und erspielt. Meisterschaft, dann Meisterschaft und Pokalsieg und jetzt das Champions-League-Finale - das hätte ich uns vor fünf Jahren bestimmt nicht zugetraut."
Zorc ist übrigens ziemlich egal, wer der Gegner wird. "Die Bayern haben doch 4:0 gegen Barcelona gewonnen. Ich habe nichts dagegen, gegen sie zu spielen." Der 50-Jährige empfand das Zitterspiel, das wegen der (zu) späten Tore von Karim Benzema (83.) und Sergio Ramos (88.) noch glimpflich ausging, zwar nervenaufreibend, hatte es aber auch irgendwie erwartet. "Wir haben 1997 im Old Trafford noch mehr Glück gebraucht." Er erinnerte damit an jene Abwehrschlacht in Manchester, die beim einzigen Dortmunder Champions-League-Triumph, dem Sieg gegen Juventus Turin in München, erst den Weg ins Finale geebnet hatte.
Watzke schloss sich auf der Toilette ein
Und doch hielt es einen in Madrid nicht mehr unter den Heizstrahlern auf der Haupttribüne: Der notorisch mit Pessimismus behaftete Hans-Joachim Watzke flüchtete in der Schlussphase und schloss sich im Klo ein. "Zum ersten Mal musste ich wegen akuter Herzprobleme aufgeben. Ich habe mich in der Toilette eingeschlossen und habe auf die Uhr geguckt", beschied der Vorstandsvorsitzende, der mit Leib und Seele ums Weiterkommen bangte. Dann habe er aber kein weiteres Beben mitbekommen, und schlussendlich durfte auch Watzke im großen Glück schwelgen.
Bewegend allemal, wie erst die alten Kämpen Weidenfeller "Wir sind voll im Rausch") und Sebastian Kehl ("Wir haben eine extreme Willensleisung vollbracht") zusammen mit dem Ur-Dortmunder Kevin Großkreutz ("Wir sind eine geile Mannschaft und ein geiler Verein") wieder aus den Kabinen kamen, um gemeinsam einen BVB-Schal vor den Fans zu schwenken. Gegen 22.55 Uhr schritt fast die gesamte Mannschaft noch einmal ins - bis auf den Dortmunder Anhang - bereits menschenleere Bernabeu, um den Triumph auszukosten. Dass sie vor dem Anpfiff durch das kleine, dunkelblaue Törchen gingen, auf dem "Road to Wembley" stand, war also symbolhaft.
Ramos "hätte sieben gelbe Karten verdient"
Und so fand auch Trainer Jürgen Klopp nur leise Ansätze der Kritik: "Insgesamt haben wir zu wenig Fußball gespielt. Wir haben 4:3 gewonnen und sind deshalb verdient im Finale." Der 45-Jährige beklagte, dass sein Team zu viele Chancen liegen gelassen habe (Ilka Gündogan) und beschwerte sich darüber, dass der im Hinspiel viermal erfolgreiche Robert Lewandowski von Sergio Ramos derart rüde attackiert worden sei, dass der eigentlich "sieben gelbe Karten" hätte sehen müssen. Klopp: "Es ist so, dass Real der größere Klub ist. Es könnte auch sein, dass es individuell die bessere Mannschaft ist." Doch dass sein besser funktionierendes Kollektiv nun das Endspiel erreicht habe, sei unvorstellbar. Klopp: "Am Ende habe ich nur gedacht: Wenn Gott will, kommen wir ins Finale."
Und in dieser Freudenstimmung hob der Fußballlehrer auch gleich mal vor dem Rückflug am heutigen Mittwoch die Sperrstunde auf. "Wir werden das feiern, ganz bestimmt. Wir wären doch krank, wenn wir das nicht machen würden. Wir haben genügend Übung darin, dass auch mit nicht zu viel Alkohol zu tun." In diesem Moment interessierte den Überzeugungstäter in BVB-Diensten auch nicht, dass bereits am Samstagabend der FC Bayern zum Bundesligaspiel wartet. "Eine witzige Konstellation", findet Klopp, "aber in Dortmund wäre niemand sonderlich aufgeregt, wenn die Bayern dort gegen uns gewinnen."
Zum Saisonende auf dem Zahnfleisch
Der Trainer spürt, dass sein nicht so luxuriös ausgestatteter Kader am Saisonende auf dem Zahnfleisch geht. Bei dem wegen eines Muskelfaserrisses früh ausgeschiedenen Mario Götze wird es laut Klopp "für den Rest der Saison eng", Sven Bender sei umgeknickt, Lewandowski angeschlagen, Jakub Blaszczykowski ausgepumpt. "Es wird deswegen am Samstag richtig hart, aber wir werden alles geben." Aber in Wahrheit sammelt diese Borussia alle Kräfte erst für den Showdown in London wieder zusammen. Niemand kann ihnen das nach dem Kraftakt aus dem Santiago Estadio Bernabeu verdenken. Schlusswort Weidenfeller. "Wir freuen uns unglaublich. Dass wir das in dem Alter genießen dürfen, ist der Wahnsinn."