EM-Tagebuch, Tag 1 Im Polen-Konvoi in die Alpen

Von Klaus Bellstedt
Es geht los, für uns Deutsche. Auch für mich, den EM-Reporter von stern.de. Und gleich am ersten Tag werden meine Nerven bis aufs äußerste strapaziert - wegen der polnischen Übermacht auf der Autobahn Richtung Alpen. Bis das Unfassbare passiert.

Womit habe ich das verdient? Da besteige ich in Hamburg bei strahlendem Sonnenschein und Temperaturen von 27 Grad den Flieger Richtung Alpen. Nein, ich meine nicht den üblen Flug durch gefühlte 20 Gewitterfronten inklusive Todesangst. Das krieg ich noch gestemmt. Fertig macht mich auch nicht der Temperatursturz von 10 Grad, oder der Dauerregen rund um München. Es sind vielmehr die lieben Nachbarn aus Polen, die die Autobahn zwischen München und Salzburg, sagen wir ruhig, eingenommen haben.

Busse, PKW's, Kleinlaster, jede Karre schön mit der rot-weißen Nationalflagge geschmückt, Ehrensache und natürlich völlig in Ordnung. Machen wir ja auch so. Schlimm nur, dass die Straßenverkehrsordnung von den liebenswerten Polen anscheinend selbst außer Kraft gesetzt wurde. Da wird munter die Fahrspur gekreuzt, sich beim Elefantenrennen fröhlich zugewunken und das alles selbstverständlich bei Tempo 80 km/h. Höhe Irschenberg (Sie wissen schon, die fiese Steigung kurz vor dem Chiemsee) wird aus 80 schnell mal 40 km/h. Da braucht es Nerven wie Drahtseile. Meine Stimmung am ersten Tag meiner lang ersehnten EM-Tour könnte nicht schlechter sein. Und es wird noch besser: der Vignetten-Kauf liegt noch vor mir!

7,50 für die Folter-Maut

Können Sie sich in etwa vorstellen, was auf der letzten Raststätte vor der österreichischen Grenze am Tag vor Deutschlands Auftaktspiel bei der EM gegen Polen los ist? Können Sie nicht! Eine Stunde Wartezeit, die Schlange reicht bis zur Klofrau. Die freut sich natürlich, weil die Polen freundlich Menschen sind und alle schön artig nach ihrer Pinkelpause Kleingeld auf der Untertasse platzieren.

Wo sind eigentlich die deutschen Fans, frage ich mich erstmals so ganz im Stillen. Nicht, dass ich ihre Bierfahnen hier auf der Raststätte vermissen würde. Aber dennoch. Na ja, sind wahrscheinlich schon alle da oder nehmen ne' andere Route.

7 Euro und 50 Cent kostet die Folter-Maut für sieben Tage Österreich, ich zahle widerwillig, die Polen lachen mich aus, klopfen mir auf die Schulter - und legen sich weitere Biervorräte zu. Zahlen tun die übrigens bevorzugt mit 50-Euro-Scheinen, was den Kassenvorgang an sich nicht unbedingt beschleunigt. Und dann nach über einer Stunde ist es endlich geschafft. Nervlich am Ende aber mit der Vignette in der Hand besteige ich meine A-Klasse. Jetzt schnell wieder auf die Autobahn, die Gunst der Stunde nutzen und ein paar Polen hinter mir lassen, denke ich. Die Wahrheit kurz vor Salzburg sieht so aus: Vollsperrung!

Der Engländer hat's noch weit

Nach einer weiteren Stunde Wartezeit setzt sich der polnische Konvoi mit mir dazwischen wieder in Bewegung, im Schneckentempo. Die Unfallstelle (nur Blechschaden!): ein fetter BMW mit englischem Kennzeichen scheint einem polnischen Kleinbus voll hinten reingefahren zu sein. Polen halten zusammen, und deshalb werden die Insassen von jedem zweiten vorbeifahrenden Auto gefragt, ob denn noch Hilfe benötigt werde. Manche hupen einfach auch nur und fahren vorbei. Vor mir meint es ein Beifahrer besonders gut mit seinen verunfallten Landsleuten. Er steigt kurzerhand aus und schüttelt den Leidgeplagten die Hände. Dann kommt er auch zu mir. Ich kurbel das Fenster runter. "Der Engländer hat es bestimmt eilig gehabt", ruft er mir in astreinem Deutsch zu - und ergänzt milde lächelnd: "Der hat's ja auch noch weiter als wir." Der Pole kann zwar nicht Autofahren, aber er hat Humor, guten Humor.

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