Der Schlüsselspieler einer entfesselten Offensive heißt für uns Mesut Özil. Die Partitur dieses EM-Spiels gegen Griechenland schrieb allerdings Joachim Löw, der die Balance im Team veränderte. Vielleicht muss der Bundestrainer hier die Rädchen wieder zurück drehen, denn wir meinen, Andre Schürrle hat nicht überzeugt, es gab zuviele Ballverluste und leichtsinnige Fehlpässe und zwei Gegentore. Richtig hart gehen wir aber nur mit den Griechen ins Gericht, aber beginnen wir mit einem Lobgesang.
Özil braucht neuen Wikipedia-Eintrag
Das Wort Dirigent kommt vom lateinischen "dirigere" was "ausrichten" bzw. "leiten" bedeutet. Der Dirigent ist "der künstlerisch-musikalische Leiter eines musizierenden Ensembles und zu seinen Aufgaben gehört die technische und künstlerische Koordination der mitwirkenden Musiker", so schreibt Wikipedia. Eine Beschreibung die als Analogie den Fußballer Mesut Özil beschreibt und per copy und paste auf die Wikipedia-Seite Özils eingestellt werden sollte.
Der Unmut über die vergebene Chance von Özil (23.), nach perfektem Zusammenspiel mit Reus, schäumte zunächst hoch, doch auch der bierseeligste "Schland-Anhänger", sollte nach dem Spiel von der Ausnahmeposition, die Özil im deutschen Team einnimmt, überzeugt sein. Özil dirigiert und leitet die Offensive. Er ist technisch und künstlerisch der feinsinnigste Dirigent, den der Fußball erfinden kann. Seine Schwächen im Torabschluss seien ihm da verziehen.
Sie haben es bereits gemerkt, Mesut Özil ist unsere Schlüsselspieler des Viertelfinalsieges. Von der Schwärmerei zu den Fakten. Im modernen Fußball beginnt der Spielaufbau auf den Außenverteidigerpositionen, oder im defensiven Mittelfeld. Die Spieler dieser Positionen haben also in der Regel die meisten Ballkontakte. Gegen die Griechen war es Mesut Özil, für den 146 Ballkontakte gezählt wurden (Quelle: sky.de/opta). Zum Vergleich: Schweinsteiger hatte 130, Jerome Boateng 91 und Philipp Lahm 87 Ballkontakte.
Özil leitete nahezu jede Großchance ein. Er war an drei Toren unmittelbar beteiligt. Er und Schweinsteiger spielten zusammen 235 Pässe, 15 mehr, als das gesamte griechische Team (Quelle: BBC). Da geriet sogar Jogi Löw ins Schwärmen: "Alle Angriffe", Löw stockte, zügelte die Emotionen und fuhr fort: "viele Angriffe sind über ihn gelaufen. Özil hat absolut klasse gespielt. Er ist wahnsinnig weite Wege gegangen. Er hat viele Impulse gesetzt."
Griechen: Individuell und kollektiv schwach
Die nicht selten schlecht organisierte griechische Abwehr wurde von den Kombinationen und den Laufwegen der Offensive um Özil, Klose, Reus und Schürrle ein ums andere Mal auseinanderdividiert. Sokratis, der oft aus der Abwehr herauszog, um Özil zu stoppen, gelang dies meist nur durch Fouls. Das defensive Mittelfeld bekam meist keinen Zugriff auf Jogis Dirigenten. Damit sind wir beim Spiel der Griechen, die Verhinderungsfußball auf schwachem Niveau zeigten.
Der Vergleich mit Chelsea wurde schon im Vorfeld wegen der fehlenden individuellen Qualität verworfen. Diese Ansicht bewahrheitete sich im Spiel, indem aber auch im Kollektiv die Vergleichbarkeit nicht gegeben war. Griechenland stand zunächst etwas höher als erwartet. Die Viererkette igelte sich nicht im Strafraum ein, sondern stand zunächst auf Strafraumhöhe. Das große Problem der Griechen - neben den individuellen Schwächen - war, dass die zweite Viererkette, die meist eine Fünferkette war, zu viel Raum zur Abwehrreihe entstehen ließ.
In diesem Raum agierten Özil, Khedira, Reus und Schürrle stark. Durch kluge Rochaden im Spiel ohne Ball, abgestimmte Lauf- und Passwege entstanden variable Angriffsoptionen. Die Kompaktheit, die die Griechen über weite Strecken gegen die Russen zeigte, war nicht gegeben. Von einem 4-1-4-1 stellte Hellas in der zweiten Hälfte auf 4-2-3-1 und phasenweise sogar auf 4-3-3 um und kam so zumindest zu besseren Szenen in der Offensive.
Deutschland hatte nach der lethargischen Phase zu Beginn der zweiten Hälfte und dem Ausgleich aber nur wenig Probleme, das Heft wieder in die Hand zu nehmen und kam zu den entscheidenden Treffern durch Khedira und Özil, die nach Standards erzielt wurden. Eigentliche eine Stärke der Griechen, die aber auch hier individuell patzten (Sifakis und Papadopoulos beim Tor von Klose - Maniatis beim Tor von Khedira).
Noch einmal zum Stichwort Verhinderungsfußball. Der Grieche mit den meisten Ballkontakten war Katsouranis (46 Ballkontakte), die Zweitmeisten Ballkontakte hatte schon Torwart Sifakis mit 42 Ballkontakten. Auch die weiteren Statistiken sind eindeutig. Deutschland konnte 75 Prozent Ballbesitz verzeichnen. Das Eckenverhältnis lautete 10:1 für Deutschland, das Flankenverhältnis 23:4 für die DFB-Elf (Quelle: New York Times).
Veränderte Balance: Mehr Spektakel und zwei Gegentore
Interessant ist vor allem das Torschussverhältnis. 24 Schüsse für Deutschland (starke 14 davon auf das Tor) und immerhin 9 für die Griechen (5 davon auf das Tor). In keinem EM-Spiel zuvor hatte Deutschland so viele Tormöglichkeiten, die Griechen hatten aber auch in keinem Spiel zuvor so viele Möglichkeiten.
Jogi Löw veränderte vor dem Griechenlandspiel die Balance des Teams mehr in Richtung Offensive. Das von vielen geforderte "Spektakel" mit vier geschossenen Toren stellte sich prompt ein. Deutschland kassierte aber auch gegen ein in der Offensive extrem schwaches Team zwei Gegentore. Hier muss der Bundestrainer überlegen, ob er zum ausgewogenen Spiel der Gruppenphase zurückkehren will. Die Ballsicherheit ist ein Ansatzpunkt.
Löw im Schlaraffenland: Optionen für jeden Gegner
Die Wechsel vor diesem Spiel kann man ebenfalls unter dem Gesichtspunkt "Balance" betrachten. Lukas Podolski und Thomas Müller spielten bisher eine defensiv betrachtet ganz starke EM. Da jedoch vielen Fans das Offensivspektakel fehlte, stand vor allem Lukas Podolski in der Kritik. Andre Schürrle machte es aber nicht besser, genauer gesagt, sogar weniger gut. Schürrle unterliefen einige leichtsinnige Ballverluste, die gegen stärkere Teams noch härter ins Gewicht gefallen wären.
Der Ausgleich entstand nicht von ungefähr durch seine Unzulänglichkeit, er hatte im Mittelfeld den Ball nicht kontrollieren können, die Folge war der Konter und das Gegentor. Nach vorne hätte Podolski gegen diesen Gegner wahrscheinlich nicht weniger geglänzt, denn Schürrles beste Szenen waren Distanzschüsse, eine Disziplin, die auch Podolski bekanntlich beherrscht.
Für das Halbfinale gegen England oder Italien stehen Jogi Löw also verschiedene Optionen zur Verfügung. Die ganz offensive Variante mit Schürrle und Reus wird er vermutlich nur gegen die defensiven Engländer wählen. Miroslav Klose hat sich als Stürmer, der seine Mitspieler ins Spiel bringt und dazu torgefährlich ist, empfohlen. Gegen die physisch starken Italiener ist aber auch Mario Gomez eine gute Option. Marco Reus ist schnell, trickreich und sehr beweglich. Er könnte für Podolski dauerhaft ins Team rücken. Spieler wie Klose und Reus lassen Mesut Özil erstarken, denn mit diesen Mitspielern kann Özil kombinieren, rochieren und Fußball spielen.
Fazit: Özil, die Balance und die deutsche Bank
Fassen wir die wichtigsten Punkte dieses Artikels und des Spiels zusammen. Mesut Özil ist der feinsinnige Dirigent der Offensive der deutschen Nationalmannschaft und manchmal würde man sich wünschen, sein feines Füßchen wurde auch mal einen echten Kracher auspacken. Löw veränderte die Balance zwischen Defensive und Offensive zugunsten der Offensive; ein Spektakel folgte, es gab aber auch zwei Gegentore, zuviele Ballverluste und Fehlpässe. Ob England oder Italien, Deutschland hat für jeden Gegner die passenden Angriffsoptionen im Kader.