DFB-Team schlägt Holland Schweinsteiger ist wieder da

Von Klaus Bellstedt, Charkow
Er bereitete beide Tore von Mario Gomez vor, war auf dem Platz präsent wie eh und je: Bastian Schweinsteiger hat das DFB-Team bei der EM zum Sieg gegen Holland geführt. Löws Leader ist wieder da.

Als in der 20. Minute Bastian Schweinsteiger zur Außenlinie lief und mit hochrotem Kopf verzweifelt nach einer Wasserflasche verlangte, hätte man leicht den Eindruck bekommen können, dass das Spiel für den Vizekapitän der Nationalmannschaft bald gelaufen sein könnte.

Es war brütend heiß in Charkow - immer noch, obwohl der Anstoß erst um 21.45 Uhr Ortszeit erfolgte. Die Hitzewelle in der Ostukraine hatte das Thermometer tagsüber auf 35 Grad ansteigen lassen, jetzt war es kaum kühler. Die schwüle Luft ließ selbst die Zuschauer oben auf der Tribüne nur schwer durchatmen. Schweinsteiger sehnte sich nach Flüssigkeit. Er brauchte diese Stärkung vermutlich mehr als jeder andere in diesem Stadion – weil er sich für diese Partie so viel vorgenommen hatte. "Ich werde meine Bestform noch erreichen, ich weiß nur noch nicht wann." Am Abend vor dem zweiten Gruppenspiel der deutschen Mannschaft hatte Schweinsteiger gewissermaßen ein Versprechen abgegeben. Er ließ nur den Zeitpunkt seiner Leistungsexplosion offen. Dass es schon beim 2:1-Erfolg gegen Holland dazu kommen sollte, war eine der Überraschungen dieses Abends.

Schweinsteiger hatte - wie auch die restliche Mannschaft bis auf ein paar Ausnahmen - im deutschen EM-Eröffnungsspiel gegen Portugal keine berauschende Leistung abgeliefert. Heraus sprang schließlich ein glücklicher Arbeitssieg. Der Münchner wurde trotz eines leichten Fitnessdefizits von Joachim Löw in die Startelf berufen.

Das ist eigentlich nicht die Art des Bundestrainers. Die lange verletzten Per Mertesacker und Miroslav Klose mussten ja auch draußen bleiben. Aber Schweinsteiger genießt bei Löw ein noch höheres Ansehen. Er ist sein "emotionaler Leader". Gegen Portugal stimmte bei Schweinsteiger wie immer die kämpferische Körpersprache. Der Mittelfeldspieler gab auch schon wieder Kommandos, aber die sportliche Darbietung ließ zu wünschen übrig. Der 27-Jährige wurde von seinen Kollegen mit durchgeschleppt. Waren die Wunden nach dem verloren gegangenen Champions-League-Finale gegen Chelsea, in dem er die tragische Hauptrolle gespielt hatte, etwa doch noch nicht verheilt? Man hätte auf diesen Gedanken kommen können. Nach dem Sieg gegen Holland lässt sich festhalten: Schweinsteiger ist wieder da.

Mehr als ein Pass, eine Eingebung

Zwanzig bange Minuten hatte die deutsche Mannschaft in Charkow zu überstehen. In dieser Zeit rollten wütende Angriffe der unter Zugzwang stehenden Holländer auf das Tor von Manuel Neuer zu. Mit Glück und einer erneut starken Abwehr wurde diese Phase überstanden. Dann kam Schweinsteiger. Vielleicht lag es ja am Gegner. Holland ist eine ganz besondere Herausforderung. Die deutsche Mannschaft hat dem Vizeweltmeister mittlerweile den Rang in Sachen Schönspielerei abgelaufen. Beim letzten Aufeinandertreffen der beiden Teams im November in Hamburg feierte die DFB-Auswahl einen fulminanten 3:0-Triumph. Nun galt es, dieses Ergebnis zu bestätigen.

Schweinsteiger riskierte viel – und gewann alles. Nach einer kurzen Anlaufphase war er "extrem präsent", wie Löw es hinterher ausdrückte. Aber das allein war es nicht. Sein Pass vor dem 1:0 auf Mario Gomez war mehr als nur ein Pass. Der Mittelfeldspezialist muss eine Eingebung gehabt haben, warum er sich ausgerechnet für die schwierigste aller Möglichkeiten entschieden hat. Links und rechts von ihm standen die mitgelaufenen Mitspieler frei und warteten auf sein Zuspiel. Der Mittelfeldspieler suchte aber lieber das Risiko und schob den Ball mit einer unverschämten Präzision genau in die Schnittstelle zwischen zwei holländischen Verteidigern in den Lauf von Mario Gomez. Was der daraus machte, war dann ebenso genial.

Klassetore des "Man of the Match"

"Bastian hat ein klasse Spiel gemacht, ich bin sehr, sehr zufrieden mit ihm"; sagte Joachim Löw, der trotz allem noch "Steigerungspotenzial" bei seinem wichtigsten Spieler sah. Das war einigermaßen verwunderlich, war Schweinsteiger doch der alles überragende Spieler auf dem Rasen. Er, und nicht Özil, bestimmte den Rhythmus des deutschen Spiels. Gleichzeitig war er sich nicht zu schade, die Löcher zwischen Mittelfeld und Abwehr zu stopfen. Omnipräsent, das war der Münchner an diesem Abend. Und ja, auch das 2:0 bereitete er technisch gekonnt vor.

Weil Mario Gomez erneut der Nutznießer war, und traf, wurde schließlich der Stürmer von der Uefa zum "Man oft he Match" gewählt. Zwei Tore in einem EM-Spiel mussten ja irgendwie gewürdigt werden. Das war richtig so. Wobei die Art und Weise, wie der Bayern-Stürmer diese beiden Treffer erzielte, sicherlich auch eine Rolle gespielt haben dürfte. Beim 1:0 stand Gomez beim Anspiel mit dem Rücken zum Tor, drehte sich um sich selbst mit dem Ball am Fuß und schloss ziemlich lässig ab. Sein zweiter großer Auftritt kurz vor der Pause war brachialer, aber nicht minder sehenswert. Gomez bewies bei seinem zweiten Tor, über welch außergewöhnliche Schusstechnik er verfügt.

"Das ist mal 'ne gute Leistung"

Mario Gomez hat bei dieser EM jetzt schon drei Tore erzielt. Damit führt er die Torjägerliste zusammen mit dem Russen Dzagoev an. Er kam nur in die Mannschaft, weil Platzhirsch Klose noch keine Kraft für eine ganze Partie hatte. Nach dem Portugal-Spiel löste Mehmet Scholl mit seiner heftigen Kritik an Gomez eine tagelange Diskussion aus. Der TV-Experte fand und findet, dass der Nationalstürmer zu destruktiv spielt und zu wenig für die Mannschaft arbeitet. Klose, der in der Mannschaft und beim Trainerteam ein hohens Standing genießt und den die Fans lieben, wurde von vielen gegen Holland in der Startelf zurückerwartet. Aber Löw schenkte erneut dem sensiblen Gomez sein Vertrauen.

Und der viel Gescho(l)ltene dankte es seinem Trainer mit zwei tollen Toren. "Mario ist niemand, den man lange aufrichten muss", sagte Löw nach dem Spiel. Aber so ganz spurlos waren die Vorkommnisse nicht an ihm nicht vorbeigegangen. Im Anschluss an den Sieg über die Holländer gab Gomez - für einen Fußballprofi - bemerkenswerte Einblicke in sein Seelenleben. "Nach verdammt schwierigen drei Tagen mit vielen Kilos auf den Schultern haben wir einen Riesenschritt in Richtung Viertelfinale gemacht", so der Stürmer. Dann fuhr er nachdenklich fort: "Ich möchte mich beim Trainer bedanken, dass er weiter zu mir gestanden hat. Es war heute nicht so einfach für mich. In ein, zwei Situationen ist mir die ganze Situation wieder durch den Kopf geschossen. Ich bin sehr froh, wie es gelaufen ist." So schnell wird es niemand mehr wagen, diesen Stürmer zu kritisieren.

Die deutsche Nationalmannschaft steht nach einer klaren Leistungssteigerung im Vergleich zum Portugal-Spiel jetzt fast schon im Viertelfinale der EM. "In der Todesgruppe haben wir nach zwei Spielen sechs Punkte. Das ist mal 'ne gute Leistung", führte der Bundestrainer zu nächtlicher Stunde fröhlich aus. Und wenn man bedenkt, dass Spieler wie Özil, Podolski oder Müller bei diesem Turnier noch nicht mal richtig auf Touren gekommen sind, müsste das Joachim Löw nach dem Sieg über Holland im Hinblick auf den weiteren Verlauf noch ein Stückchen entspannter machen. Da schlummert noch so einiges.

Der Boss ist bereit

Bastian Schweinsteiger und Mario Gomez - zwei, die man nach Verletzungen und dem Champions-League-Trauma nicht schon wieder soweit vermutet hätte -, sind dagegen schon jetzt voll da. Spielen sie weiter so phänomenal zusammen wie in der Bullenhitze von Charkow, dürfte die EM für die Deutschen noch etwas länger andauern. Gomez tauschte übrigens nach dem Schlusspfiff mit Robin van Persie das Trikot, gab dem TV noch ein Interview und verschwand eher lautlos in der Kabine.

Schweinsteiger dagegen rannte in Richtung rechte Eckfahne vor der Haupttribüne. Dort saßen in einer kleinen Gruppe die Familienangehörigen, Freundinnen und Freunde der Spieler. Der 27-Jährige hatte sein Trikot längst ausgezogen und trug es wie einen Schal um den Hals. Er klatschte mit seinem besten Kumpel ab und spurtete dann zurück auf den Rasen. Schweinsteiger lief ganz aufrecht, er strotzte nur so vor Kraft. Der Boss im deutschen Spiel wäre auch für eine dritte Halbzeit bereit gewesen. Wer hätte das nach seinen ersten, schweren 20 Minuten gedacht.

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