Fußballnationalmannschaft Zu früh für Jubelstürme

Wenn es um die deutsche Fußballnationalmannschaft geht, ist fast nur noch von "Zauber", "Glanz" und "Souveränität" die Rede. Ist so viel Lob wirklich verdient? Eine Bitte um Bodenhaftung.

Es begann scharf, Philipp Lahm habe sich beim Gegentor "abkochen" lassen. Und dann weiter, über Mario Gomez: "Jämmerlich" sei dessen Elfmeter gewesen, "verhühnert". Hinein ins Fernsehmikrophon gesprochen, diese Bewertungen, live und unverblümt. Über den Kapitän und über den Mittelstürmer der deutschen Nationalmannschaft. Darf man das im Herbst 2011?

Es war der Sportreporter Marcel Reif, der sich erlaubte, zwei krasse Fehler deutlich zu benennen. Reif tat das allerdings im Sender Sky und beim Spiel des FC Bayern gegen Neapel. Und nicht auf ARD oder ZDF bei einem deutschen Länderspiel. Dort hat man solche Töne lange nicht gehört.

Sie widersprächen auch einer Stimmung, die das gebührenfinanzierte Fernsehen eifrig nährt und die nun, vor den beiden letzten Spielen des Jahres gegen Holland und die Ukraine, (heute abend 20.45 Uhr, Liveticker auf stern.de), weiter hochkocht. Es ist eine Stimmung, als sei Deutschland schon ein bisschen Europameister. Die Stimmung drückt Stolz und Freude aus und die schöne Gewissheit, alles richtig zu machen. Mag die Währungsunion zerschellen, der Aufschwung enden, die Regierung überfordert sein. Im Fußball, verheißt diese Stimmung, ist Deutschland wieder wer.

Hat Neuer die WM wirklich mit Glanz gespielt?

ARD und ZDF zahlen dem Deutschen Fußball-Bund viele Millionen, um die Länderspiele zu übertragen. Ergeben begleiten die Sender nun die Auftritte der Nationalelf – und überhöhen sie in einem Maß, das einem für die EM im kommenden Sommer Angst und Bange werden kann. Dreimal binnen weniger Minuten überschlug sich zum Beispiel die ARD beim Auswärtsspiel in der Türkei. "Das passiert selbst einem Bastian Schweinsteiger", entschuldigte der Kommentator, als Schweinsteiger einen Ball nicht kontrolliert bekam. Als Thomas Müller ein Fallrückzieher misslang, befand er, diesen Jungen könne man "gar nicht genug loben". Torwart Manuel Neuer, war zu erfahren, habe die Weltmeisterschaft 2010 "mit Glanz" gespielt.

Manuel Neuer erledigte seine Arbeit in Südafrika bemerkenswert routiniert und weitgehend fehlerfrei – aber beim besten Willen nicht glanzvoll. Doch glänzen soll sie eben, diese ja durchaus nicht unsympathische Mannschaft.

Und gern auch zaubern. Die Beobachter der Deutschen Presse-Agentur berichten gerade vom "Zauber-Duo" Özil und Götze. Haben diese beiden Spieler schon genial zusammen gewirkt - in einem Ausmaß, als dass man sie schon zum Duo erklären könnte? Eigentlich will der Bundestrainer Özil und Götze in Kiew ja zum ersten Mal zusammen auflaufen lassen. Und schauen, wie die beiden mit- und nebeneinander können.

Es ist richtig, dass die deutsche Auswahl sich spielerisch und vor allem personell enorm entwickelt hat. André Schürrle vorne links und Mats Hummels in der Innenverteidigung verstärken den Kader, wo er schwach besetzt war. Marco Reus und Mario Götze sind Angreifer, die die Offensive weiter verbessern können (Reus) oder das bereits tun (Götze).

Deutschland hat Potenzial, Taktik und Spielwitz

Bei der WM 2010 glänzten die Siege gegen große Gegner ziemlich hell in der südafrikanischen Sonne. Aber England befand sich damals in desolatem Zustand. Und Argentinien hatte mit Maradona einen Coach, der nur motivierte und die Taktik vergaß. Gegen Spanien im Halbfinale besaß Deutschland dann keine Chance.

Medien, Fans und auch manche Spieler sprechen gern über den amtierenden Europa- und Weltmeister, über die Mannschaft des Gestern und des Heute. Dabei hört man selten, dass Spanien kürzlich auch bei den Unter-21- und bei den Unter-19-Jährigen Europameister wurde und damit beste Aussichten hat, auch die Mannschaft des Morgen zu werden. Es geht um den Vergleich, und der fällt phantastisch aus. Nur jeder vierte Deutsche widersprach in einer Umfrage der Aussage, Deutschland befinde sich "auf Augenhöhe mit Spanien".

Deutschland hat Potenzial. Hat Taktik. Hat Spielwitz. Hat den richtigen Trainer und so starke Fußballer wie lange nicht. Deutschland darf sich natürlich an sich selbst berauschen. Aber auf Augenhöhe mit den Spaniern und dem Rest eh überlegen? Alle großen Fußballnationen sind souverän durch die EM-Qualifikation geschritten, England, Frankreich und Italien. Und die Niederlande.

Gibt es wirklich keine Mannschaften mehr, die Deutschlands Nationalspieler abkochen können? Das Spiel gegen Holland kommt zu einem guten Zeitpunkt.

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