Herr Mertesacker, die Spiele gegen Kasachstan und Australien haben, obwohl eines sogar ein EM-Qualifikationsspiel ist, nicht den ganz großen sportlichen Wert. Sie kommen gerade voller Adrenalin aus Bremen, wo Werder im Abstiegskampf steckt. Wären Sie in so einer Situation nicht lieber in Bremen geblieben, oder ist die Luftveränderung vielleicht sogar förderlich?
Für mich kommt die Bundesliga-Pause zum richtigen Zeitpunkt. Es tut gut, sich jetzt mit der Nationalmannschaft zu beschäftigen. Ich kann hier meine Akkus wieder aufladen – auch die im Kopf. Die letzten Wochen bei Werder waren sehr hart – in jeder Beziehung.
Joachim Löw hat seinen Vertrag bis zur WM 2014 vorzeitig verlängert. Verträge scheinen heutzutage gerade bei Trainern nicht mehr viel Wert zu sein. Was stimmt Sie hoffnungsvoll, dass Löw auch tatsächlich bis dahin Ihr Trainer bleibt?
Beim DFB setzt man auf Kontinuität. Das unterscheidet den Verband in der Tat von so manchem Bundesligaclub (lacht). Man hatte ja schon vor Löws Verlängerung Gewissheit, dass er die EM 2012 noch machen wird. Jetzt ist der Druck weg, dass man möglicherweise nach dem Turnier einen neuen Bundestrainer suchen muss. Alle, auch wir Spieler, haben noch mehr Sicherheit. Ich bin davon überzeugt, dass Joachim Löw seinen Vertrag erfüllen wird. Er hat eine Philosophie, die Früchte trägt. Das ist für seinen Verbleib beim DFB auch ausschlaggebend.
In der Bundesliga kommt man gerade nicht mehr so ganz hinterher, welcher Trainer jetzt welchen Club trainiert. Wie bewerten Sie die aktuelle Situation? Seriosität ist ja etwas anderes…
Ich bin stolz darauf, dass sich Werder von dieser gefährlichen Tendenz des Bäumchen-wechsel-dich-Spiels abgrenzt. Wir sind im Bremen gemeinsam durch ein Tal gegangen. Und: Wir haben uns in der Krise unter Thomas Schaaf weiterentwickelt. Ich bin kein Freund von Trainerwechseln, schon gar nicht in Krisenzeiten. Es ist nicht gesagt, dass durch einen neunen Trainer auch neue Motivation entsteht.
Bei Werder wird mit ruhiger Hand Politik gemacht – genauso wie beim DFB. Sie arbeiten schon lange unter den Trainern Schaaf und Löw. Gibt es Parallelen?
Beide haben in der Vergangenheit erfolgreich gearbeitet. Das ist ein wichtiger Parameter. Das fordert von den Spielern Respekt und Anerkennung ein. Für mich persönlich sind zwei weitere Aspekte fast noch bedeutender: Schaaf und Löw schaffen es, mich als Abwehrspieler weiter auszubilden. Und: Sie vertrauen mir. Wenn man Vertrauen spürt, hilft einem das im Spiel immens.
Sie gehören mit Ihren 74 Länderspielen zu den erfahrenen Nationalspielern. Wir sprachen gerade über Verantwortung und Vertrauen. Joachim Löw will, dass Sie die Neuen führen. Wie lassen sich die jungen Dortmunder Tabellenführer Götze, Bender und Schmelzer denn so führen?
Ich muss vorab sagen, dass ich diesen Weg von Joachim Löw und vom DFB, immer wieder neue, junge Spieler einzubauen, phänomenal finde. Spieler wie Götze, Bender oder auch der Mainzer Schürrle kommen hierher, integrieren sich mühelos und können fußballerisch sofort auf Nationalmannschaftsniveau mithalten. Der deutsche Fußball kann sich glücklich schätzen, solche Talente zu haben. Um auf die Frage zurück zu kommen: Sie lassen sich problemlos führen. Ihre Charaktere sind schon sehr stark ausgebildet. Das ist bezeichnend für diese Generation. Straffe Führung bringt da nichts. Man muss ihnen den Platz lassen, sich weiter zu entfalten. Wir Erfahrene sind dann in der Pflicht, eine Atmosphäre zu schaffen, die den Jungs den Raum dazu lässt.
Braucht die Mannschaft noch Michael Ballack?
Er ist der Kapitän. Und er hat diese Rolle in den vergangenen Jahren hervorragend ausgefüllt. Er hat die Mannschaft sensationell geführt. Er hat uns gezeigt, wie man mit Druck umgeht. Dass ist das, was ich berichten kann. Alles andere muss der Bundestrainer entscheiden.
Wie ist es jetzt eigentlich, wenn Sie mittags oder zum Abendessen mit den Nationalelf-Kollegen zusammen sitzen: Unterhält man sich viel über die Bundesliga? Gibt es vielleicht sogar in Sachen Meisterschaft Verunsicherungsversuche der Bayern-Gruppe in Richtung der Dortmunder?
Es gibt natürlich interessante Themen (lacht). Wir diskutieren dann. Auch über strittige Szene aus Spielen. Wenn Sie mich so fragen: Verunsicherungsversuche oder Sticheleien bringen bei den Dortmundern gar nichts. Sie sind dagegen immun und total souverän. Man merkt ihnen an, dass sie schon lange oben stehen…
Unten in der Tabelle scheint es dieses Jahr ein Nervenspiel zu werden. Wie sehr kommt es im Abstiegskampf auf die Psyche an?
Unglaublich viel. Haben Sie unsere Freude nach den letzten beiden Siegen in Freiburg und Nürnberg gesehen? Das ist eine andere Freude, als wenn man gerade ein Spiel gewonnen hat, in dem es um Platz drei, vier oder fünf geht. Das ist Erleichterung. Das hat eine andere Qualität. In Bremen haben wir einen Mental-Coach engagiert, weil wir in manchen Dingen nicht mehr weiter wussten. Er ist nur ein kleines Mosaiksteinchen in der Werder-Welt, aber ein sehr wichtiges. Blockaden konnten gelöst werden. Die Mannschaft glaubt wieder an sich. Wenn das nicht funktioniert, ist man im Abstiegskampf verloren.
Letzte Frage: An den letzten beiden Spieltagen gab es vor dem Anpfiff jeweils Schweigeminuten für die Opfer der Tsunami-Katastrophe in Japan. Was geht Ihnen in dieser Minute durch den Kopf?
Man denkt an die Opfer, die schrecklichen Bilder der vergangenen Tage haben sich eingebrannt. Und ich denke auch daran, was das für die Welt insgesamt bedeuten könnte. Im nächsten Moment sehe ich dann die gegnerische Mannschaft – und will nur noch in den Wettkampf.
Per Mertesacker, 26,
Stuart Franklin/Bongarts spielt seit 2006 bei Werder Bremen. 2004 machte der Abwehrspieler, damals noch im Trikot von Hannover 96, sein erstes Länderspiel. Mittlerweile hat er an zwei Weltmeisterschaften teilgenommen, wurde dabei zweimal Dritter und kommt auf 74 Länderspiele - ein Titel fehlt jedoch noch