Debüt als Bundestrainer Über Nacht ergraut: Warum Julian Nagelsmann einen radikalen Systemwechsel einläutet

Julian Nagelsmann mit Ilkay Gündogan beim Training des DFB-Teams in den USA
Gibt beim DFB-Team jetzt den Takt an: Julian Nagelsmann bestreitet sein Debüt als Bundestrainer gegen die USA
© Federico Gambarini / DPA
So alt war eine deutsche Fußball-Nationalmannschaft seit 25 Jahren nicht mehr. Für den neuen Trainer kein Problem: Er sieht sich zwar als Baumeister des Teams, nicht aber als dessen Entwickler.

Der Raum kaum größer als eine Besenkammer, kein Fenster, keine Klimanlage, und an der Wand eine Tafel, die den Gast begrüßt mit dem Satz: "Dieser Ort kann deine Heimat sein – oder dein schlimmster Alptraum."

In diesem stickigen Raum unter einer Tribüne des Pratt & Whitney-Stadions in Hartford, Connecticut, sollte sie also beginnen, die neue Ära des deutschen Fußballs. Hier hielt Julian Nagelsmann am Freitagabend seine erste Pressekonferenz als Bundestrainer. Der wenig feierliche Rahmen im Stadion des Footballklubs New England Patriots schien Nagelsmanns Stimmung nicht zu trüben. Pathos hatte er praktischerweise selbst im Programm, und so sagte er mit Blick auf das Testspiel am Samstag gegen die USA (21 Uhr, RTL): "Wir wollen aktiven, intensiven und aggressiven Fußball spielen, der uns selbst begeistert." Er sei "schwer beeindruckt" von den Trainingsleistungen seiner Mannschaft, in der "viel Potenzial" schlummere.

Ähnlich hatte sich auch Nagelsmanns Vorgänger Hansi Flick in der Spätphase seiner Amtszeit geäußert. Stets ging es um das unglaubliche Talent, das die DFB-Auswahl angeblich versammelt – bloß das dies nur die Drohnen zu sehen bekamen, die Flick über den Trainingsplatz schweben ließ. Und selten die Zuschauer bei den Länderspielen im Stadion.

Julian Nagelsmann bringt Schwung ins Training

Unter Nagelsmann, 36, soll das nun alles anders sein. Wer ihn zuletzt in Foxborough auf dem Trainingsplatz sah, anderthalb Autostunden von Hartford entfernt, der erlebte einen jungen, energiegeladenen Trainer, der manche Übung selbst vortanzte und dabei laut das Wort führte. Bei den Spielern kam das offenbar gut an. Thomas Müller lobte, Nagelsmann bringe "viel Power auf den Platz", Ilkay Gündogan freute sich über "klare Ansagen", und Jamal Musiala, ein Meister der Kurzantwort, sagte: "Alle haben Bock."

Auch Nagelsmanns Vorgesetzter Rudi Völler schloss sich den Elogen an: "Julian ist genau der Typ, der den Stimmungsumschwung schaffen kann, den wir unbedingt brauchen."

Nur Nagelsmann selbst war das alles zu gefühlig. Atmosphäre, Teamgeist, das sind Begriffe, bei denen er an den Elf-Freunde-Mythos aus Herberger-Zeiten denken muss. Ein Klischee, "Käse", sagte Nagelsmann. So einfach sei das eben nicht, in der Kabine die Hände in die Mitte halten, ein paar beschwörende Worte rufen, und schon ist man ein tolles Team.

In Nagelsmanns Wahrnehmung sind Fußballmannschaften vor allem Zweckgemeinschaften. "Wir müssen die Atmosphäre nicht erzeugen, indem wir ständig drüber sprechen. Es geht drum, Fußball zu spielen, wo jeder am Abend ins Bett geht und sagt: Boah, das macht Bock, da zu spielen!"

Es geht auch um Ergebnisse. Dessen ist sich Nagelsmann bewusst, "Siege sind sehr wichtig", sagte er. Eine triviale Erkenntnis eigentlich, doch unter Hansi Flick war sie immer weiter in den Hintergrund gerückt. Die Punktausbeute als zentrale Messgröße ließ er nicht gelten, unterschlug sie doch, welch wichtige Arbeit Flick als Fußballpädagoge beim DFB leistete. Flick sprach stets davon, eine Mannschaft für die EM 2024 und die Jahre danach bauen zu wollen. Dass der Weg in die vermeintlich goldene Zukunft holprig geriet: geschenkt, darüber mögen sich nur Kleingeister aufregen.

Bei Flick war alles Zukunft, er betrieb Experimente bis zum Exzess – bis die Mannschaft jeden Glauben an sich selbst verlor. Beim 1:4 gegen Japan im September konnte man den Zerfall des Teams in Echtzeit verfolgen.

DFB-Team so alt wie lange nicht

Bei Nagelsmann ist jetzt alles Gegenwart. Er besitzt nur einen Vertrag bis Ende Juli 2024, neun Monate insgesamt, und in dieser knapp bemessenen Zeit will er rausholen, was rauszuholen ist. Gleich zwölf Spieler, die Nagelsmann für die USA-Reise nominiert hat, sind 30 Jahre oder älter. Nur unter Erich Ribbeck, der Ende der 1990er Jahre als Teamchef wirkte (und nebenbei sehr viel Golf spielte), hatte die deutsche Nationalmannschaft einen höheren Altersschnitt.

Nagelsmann ist Pragmatiker. Er baut eine Mannschaft, er fügt die einzelnen Teile zusammen, sieht sich aber nicht in der Rolle eines Entwicklers. All das Verblasene, das Weihevolle seiner Vorgänger geht Nagelsmann völlig ab. 

Das seit der missratenen WM 2022 tief verunsicherte DFB-Team will er mit Seniorität auf der zentralen Achse stabilisieren: Er hat Mats Hummels, 34, als Abwehrchef zurückgeholt, den schon Joachim Löw aussortiert hatte. Davor positioniert er im Mittelfeld Thomas Müller, 34, der in der Angriffsspitze Niclas Füllkrug, 30, bedient oder gar den erstmals Berufenen Kevin Behrens, 32.

Nagelsmann ist beim DFB wie auf Montage. Der Bundestrainerjob bedeutet für ihn ein Glück auf Zeit. Probleme muss er heute lösen, nicht morgen. Ein Gegner wie die USA scheint da genau richtig zu kommen. Kein Weltklasseteam, absolut schlagbar für die Deutschen.

Aber das hat man im September auch über Japan gesagt.

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