Nationalmannschaft Alarm zur Mittagsstunde

Von Frank Hellmann, Frankfurt
Deutschland ist längst nicht für die Europameisterschaft in der Schweiz und Österreich gerüstet. Deshalb schlägt Teammanager Oliver Bierhoff vor dem Testspiel in Wien gegen den EM-Gastgeber lauthals Alarm. Seine Botschaft: "Es plätschert alles so dahin, das gefällt mir überhaupt nicht."

Mehrfach richtet Joachim Löw einen bangen Blick zum Himmel. Dem Bundestrainer ist auf der kleinen Kampfbahn im Schatten der Frankfurter Arena nicht geheuer, was sich da über seinem Kopf zusammenbraut. Aus den dicken Wolken gehen immer wieder Schauer nieder, der 48-Jährige stülpt sich kurzerhand eine ulkige Wollmütze über den Kopf.

Doch es ist nicht das unbeständige Wetter, das der deutschen Fußball-Nationalmannschaft vor dem Freundschaftsspiel am Mittwoch in Wien gegen den EM-Gastgeber Österreich (20.35 Uhr/live ARD) eine Menge Sorge bereitet. Nach der Trainingseinheit am Morgen, an dem aus dem dezimierten Aufgebot nur zehn Akteure teilnahmen, schlägt Teammanager Oliver Bierhoff zur Mittagsstunde Alarm.

Ort und Zeitpunktpunkt sind genau gewählt, die Worte vor der Medienschar im Sepp-Herberger-Raum der DFB-Zentrale trägt Bierhoff mit strenger Miene vor. "Wir müssen tierisch aufpassen und wach werden, dass die EM schon jetzt begonnen hat. Das plätschert alles so dahin, das gefällt mir überhaupt nicht." Und weiter: "Dass die EM weit weg ist, stimmt so nicht. Es wäre der größte Fehler, wenn wir entspannt ins Turnier gehen. Ich habe ein bisschen Sorge." Aus gutem Grund: Die Vorbereitung ist zu kurz, die Verletztenzahl zu groß, die Erwartungen sind überhöht, die Gegner werden unterschätzt. "Vor der WM lief alles von selbst. Da war zwei Jahre vorher der ganze Fokus drauf", erklärt Bierhoff, "da fällt die EM jetzt ein bisschen runter. Dabei ist das das schwierigere Turnier."

"Warnsignale, die alle verstanden haben"

Wohl wahr: Sowohl bei der Endrunde 2000 als auch 2004 blieb die DFB-Auswahl in drei Vorrundenspielen sieglos, schied sang- und klanglos in den Gruppenspielen aus. Kann das im Juni gegen Kontrahenten wie Polen, Kroatien und eben Österreich wieder passieren? Diese Furcht hegt der Führungsstab, der nach den Verhandlungen mit dem Mannschaftsrat die selbstbewusste Prämienregelung bekannt gab. Sollten die Elitekicker wieder frühzeitig scheitern, gibt es keinen Cent. Dafür wird danach so kräftig wie nie zuvor in der DFB-Geschichte kassiert: 50.000 Euro fürs Viertelfinale, schon 100.000 fürs Halbfinale und 250.000 für den Titel. Doch davon redet Bierhoff nicht vertiefend, sondern der Golden-Goal-Schütze des EM-Finals 1996 spricht lieber ausführlich die vielen "Warnsignale" an, "die hoffentlich alle verstanden haben." Als da wäre die Malaise mit den maladen Leistungsträgern: der zum dritten Male am Knie verletzte Mittelfeldantreiber Torsten Frings, der an einer Entzündung an der Fußsohle leidende und nach seiner Stippvisite im DFB-Quartier wieder gen Madrid gereiste Abwehrmann Christoph Metzelder, die immer noch nicht genesenen Verteidiger Clemens Fritz, Marcell Jansen und Arne Friedrich. Welche Fehler sind da gemacht worden? Der neben Bierhoff auf dem Podium sitzende Fitnessexperte Oliver Schmidtlein überlegt. Das sei ein "multifaktorelles Problem". Bloß keine Verdächtigungen aussprechen. Aber Schmidtlein sagt auch, dass "diesen Sommer kein Turnier stattgefunden hat, das kann als Ausrede nicht gelten." Die von ihm untersuchten 66 Verletzungen des Sommers seien überwiegend "Kontaktverletzungen", da greife die Prävention nicht. Aber Schmidtlein sagt auch: "Sicher kann man da noch mehr tun."

Die Folgen badet der Bundestrainer aus. "Es ist ganz schwierig, sich einzuspielen", klagt Löw, dem am Dienstag beim Abschlusstraining um 17 Uhr im Ernst-Happel-Stadion nur eine gemeinsame Übungseinheit mit seinem Kader bleibt. Automatismen einstudieren, Formationen probieren? Unmöglich! Genauso wird es auch beim finalen EM-Check am 26. März in Basel gegen die Schweiz sein. Selbst die unter Jürgen Klinsmann noch viel diskutierten Fitnesstests fallen weg - es ist schlicht keine Zeit im voll gestopften Terminplan. Was Bierhoff bleibt, ist der nachhaltige Appell an die Eigenverantwortung der Einzelspieler. "Jeder Profi ist sein eigener Coach. Wir können das immer nur wieder ansprechen, dass die Fitness ein ganz wichtiger Aspekt sein wird."

Zu viele Sorgenkinder in der deutschen Auswahl

Deshalb ist gerade die Causa Frings besonders ärgerlich, Bierhoff ist jetzt froh, "dass wir eine gemeinsame Lösung gefunden haben und er jetzt bei unserem Physiotherapeuten Klaus Eder behandelt wird." Generell werde zu jedem Kandidaten "ab sofort wöchentlich Kontakt gehalten." Und dabei ist auch der Ratschlag gemeint, wie Edelreservisten á la Lukas Podolski mit ihrer besonderen Situation umgehen, die alles andere als leistungsfördernd ist. Wegen Podolski und Co. wird Schmidtleins Crew detailliert die Einsatzminuten zwischen dem 10. März und 17. Mai listen - international beschäftigte Spieler könnten auf maximal 1890 Minuten kommen. "Von diesen gespielten Minuten ist abhängig, wie im Trainingslager auf Mallorca belastet wird", verrät der Fitnesstrainer, "es wird dort sehr individuell trainiert." Erst dann lasse sich ein geregeltes Mannschaftstraining durchführen.

Ein Detail, gewiss, doch in der Summe gibt es schlicht zu viele Sorgenkinder in der deutschen Auswahl, angefangen vom ohne Stammplatz ausgestatteten Torwart Jens Lehmann bis hin zum lange aussetzenden Kapitän Michael Ballack. Immerhin: Obwohl der 31-Jährige am Montag wegen eines "Schlags auf die Wade" (Bierhoff) nicht trainierte, wird der Chelsea-Profi am Mittwoch sein 78. Länderspiel bestreiten. "Er ist für uns wahnsinnig wichtig", betont Bierhoff, "außerdem ist er richtig heiß auf dieses Spiel." Das sind auch die Neulinge Heiko Westermann und Jermaine Jones, die sich beide nicht unberechtigte Hoffnungen auf ein Länderspieldebüt machen. "Für uns hätte es nicht besser laufen", sagt Abwehrallrounder Westermann, "mal sehen, was uns noch erwartet." Vielleicht sogar noch eine unverhoffte EM-Nominierung. Denn Bierhoff gab den kickenden Kandidaten noch eine Warnung mit auf den Weg: "Wir haben ja vor der WM schon gezeigt, dass man auch zwei Tage vor dem Nominierungsschluss noch aus dem Kader raus- oder reinrutschen kann." Wer wissen will, wie bitter das für Nationalspieler ist, der kann sich ja mal bei Kollege Kevin Kuranyi erkundigen.

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