Nach vorn geht nichts im deutschen Fußball. Zwei Jahre vor der WM im eigenen Land sucht der DFB einen neuen Bundestrainer, und die Interessen sind verkeilt.
Schuld hat DFB-Präsident Gerhard Mayer-Vorfelder, der die Entscheidung zur Chefsache erklärt hat. Der Sonnenkönig der Algarve logierte noch Tage nach dem EM-Aus der Nationalelf im verwaisten Mannschaftshotel von Almancil, bevor er nach Lissabon umzog. In Portugal erfindet er sich seine eigene Realität. Und spielt auf Zeit.
Es könnte das Abschiedsspiel des Machtpolitikers sein. Der Fall ist verworren: Der allseits als Favorit gehandelte Ottmar Hitzfeld wird nicht zusagen, wenn er nicht das Gefühl hat, Mayer-Vorfelder stehe wirklich zu ihm, erzählte der Kandidat nach dem Geheimtreffen mit "MV" im kleinen Kreise in Sevilla. Der DFB-Boss scheint Hitzfeld durch sein zähfließendes Locken entnerven zu wollen, um nach dessen Absage seinen Günstling Christoph Daum auf den Posten zu hieven. Den Lügenbaron des Jahres 2000 wiederum will die Bundesliga unter allen Umständen verhindern, die Bayern vorneweg - Hitzfeld kommt für sie als Einziger infrage. Das Kuddelmuddel könnte am Ende zum Sturz Mayer-Vorfelders führen.
Die Positionskämpfe um Rudi Völlers Nachfolger aber überdecken das wirkliche Problem: Wie zum Teufel soll der neue Trainer binnen so kurzer Zeit dieser Nationalelf Klasse beibringen? "Man darf nicht glauben, dass sich mit einem anderen Mann irgendetwas ändert. Kein Bundestrainer kann die Krise des deutschen Fußballs lösen", sagt ein Spitzencoach der Liga. "Grundsätzlich hat Völler aus dieser Mannschaft alles herausgeholt."
Rudi Völler ist nicht gescheitert. Er hat für sich beschlossen, gescheitert zu sein. Seine Kraft war erschöpft; am Ende verpuffte sie einfach. Sein Rückzug sagt wenig aus über Völlers Qualität und viel über das Team: eine einfallslose Elf, der die Schnelligkeit der Beine, vor allem aber der Gedanken fehlte. Sie konnte ein hohes Tempo nicht präzise spielen; sie konnte den Rhythmus nicht plötzlich variieren, kaum ein Spieler war in der Lage, samt Ball an einem Gegner vorbeizukommen - alles Kennzeichen der beeindruckenden Teams dieser EM, der Tschechen, der Dänen, der Portugiesen.
Mit den zur Auswahl stehenden Spielern könnte kein Trainer der Welt für 2006 einen souveränen WM-Favoriten basteln. Aber genau das ist die Aufgabe. Völler hat erkannt, dass es hoffnungslos ist.
Zwei Tage nach dem Aus, ein wolkenloser Himmel spannt sich über Quinta do Lago in Südportugal. Michael Ballack ist nicht mit der Nationalelf nach Hause geflogen, seine Familie hatte für die EM-Wochen eine Villa gemietet, ganz in der Nähe des Hotels Ria Park Garden, Mayer-Vorfelders Trutzburg. "Ich bin enttäuscht von Rudis Entscheidung", sagt Ballack, "und verstehen kann ich sie auch nicht." Der Bayern-Spieler ist tiefbraun geworden in Portugal, am Ende fiel kaum noch auf, dass sich unter seine Augen nach jedem Match tiefe Falten gegraben hatten.
Völler trat zum Abschluss vor seine Männer und bat sie, "sich jetzt nicht gegenseitig zu zerfleischen". Mit seinem wichtigsten Feldspieler hat er nicht mehr unter vier Augen geredet. "Rudi", sagt Ballack, "hat der Nationalmannschaft wieder Leben gegeben, eine Struktur, er hat uns die Sympathie zurückgewonnen und einen Teamgeist geschaffen, für den er ganz wichtig war." Wer vor der EM wider besseres Wissen auf Deutschland setzte, setzte auf diesen Effekt. An Ballack, 27, ließ er sich am besten messen. Er hat in einer kleinen Mannschaft ein großes Turnier gespielt, natürlich auch, weil das System auf ihn zugeschnitten war. "Der Rudi", sagt er, "hat mir die Rücken-deckung gegeben, die ich brauche, um meine beste Leistung zu bringen." Ob er sich nun im Stich gelassen fühle? "Nein", sagt Ballack. Er ist kein Typ, der ja sagen würde. Aber alles, was er sagt, klingt so, als sei der Teamchef der Grund gewesen, warum er sich stets auf die Nationalelf freute.
Vertrauen aufbauen,
aus vielen Geschwächten eine Einheit bilden: Man wusste vorher, dass das Völlers Programm ist. Man wusste nicht, dass nicht einmal das reichen würde. Sein ehrenhafter Rücktritt war sein letzter Dienst an der Mannschaft. Die Zeitungen waren am nächsten Tag voll mit Nachrufen, und man kann sich vorstellen, wie sie sonst ihre Seiten gefüllt hätten. Man brauche nun einen Trainer, der unbefleckt sei, der wieder Kredit habe, sagte Völler. Was er meinte, war: Sonst steht diese Truppe die nächsten zwei Jahre bis zur WM nicht durch. Und dann ging er.
"Wenn nicht der Rudi, wer dann?", fragt Ballack, Sorge in der Stimme. "Wer hat dann Kredit? Egal, wer jetzt kommt, nach zwei mäßigen Spielen brennt doch in Deutschland wieder der Baum." Der neue Trainer allerdings bekommt zunächst durchaus Kredit. Aber alle Spieler, die älter als 25 Jahre sind, haben keinen mehr.
Zwei Tage vor dem ersten Match gegen Holland sitzt Abwehrchef Jens Nowotny in der Lobby des Hotels Ria Park Resort und sagt ruhig: "Ich stehe extrem auf der Abschussliste." Er meint die "Bild"-Zeitung, mit der er seit neun Monaten nicht mehr redet, er sieht sich falsch zitiert. Jeden Tag fordert "Bild" bis zum EM-Start: Nowotny raus. "Völler hat schon vor sechs Monaten zu mir gesagt: Wir ziehen das durch. Und der Rudi hat das Rückgrat, zu seinem Wort zu stehen", sagt Nowotny. Er ist 30, nach zwei Kreuzbandrissen wirkt er nicht mehr so schnell wie ehedem. Aber gegen Holland wird er es sein, der verhindert, dass die Abwehr zurückweicht, seine Erfahrung hält die Linien zusammen.
Zwei Wochen später, nach dem EM-Aus, schreibt "Bild": "Nowotny: weg!" Erstklassige Verteidiger jedoch gibt es in Deutschland so wenig wie treffsichere Stürmer. Und wer jung ist, ist nicht automatisch gut. Erst 2000 begriff man beim DFB den Wert der Nachwuchsarbeit. Die Saat ist noch nicht gereift, ein Philipp Lahm noch immer als Zufallstreffer zu werten. Wenn der sich verletzte, wäre er ebenso wenig zu ersetzen wie zur EM Sebastian Deisler und Christoph Metzelder.
Völler baute diesen Lahm, 20, zu einem der besten Linksverteidiger des Turniers auf. Und Bastian Schweinsteiger deutete in jeder Partie an, dass aus ihm etwas werden könnte. Eines Tages, vielleicht. "Völler hat mir am Anfang gesagt, ich könnte immer zu ihm kommen, und wenn es mitten in der Nacht ist", sagte Schweinsteiger vor dem Lettland-Spiel. "Ich würd's auch sofort tun." So ein Trainer war Völler. Einer für die Alten, einer für die Jungen.
Sein Abschneiden war nicht schlechter, als man es erwarten durfte. Viel eher muss erstaunen, dass er den Spielern zum Auftakt so viel Selbstsicherheit geben konnte. Eine zu große Aufgabe für ein ganzes Turnier, man merkte es an Kevin Kuranyi. "Ein Tor würde mich so befreien", sagte der zwei Tage vor dem letzten Spiel. Befreien, von was? "Von allem." Kuranyi, 22, sieht so vielversprechend aus, aber vor dem Tor wird er weich. Das Gefühl? "Schwer zu beschreiben. Man wird immer enger." Gegen Tschechien wirkte es manchmal so, als sei er froh, wenn der Ball nicht in seine Nähe kommt.
Kein Stürmer traf, aber dies dürfte wenige überrascht haben. Im Mittelfeld lag die Hoffnung, doch der Motor lief nur auf einem Zylinder: Ballack. Frings wirkte ausgelaugt, Hamann bremste den Fluss, und Schneider verlief sich im weiten Feld. "Es ist wichtig, dass jetzt nicht alle erfahrenen Spieler rausgedrängt werden. Nur mit einer Jugendauswahl geht es nicht", sagt Ballack, während zu Hause längst das Tauziehen um den neuen Trainer begonnen hat.
Vielleicht wäre wirklich Christoph Daum der Beste, mancher Nationalspieler hält große Stücke auf ihn. Daum, derzeit bei Fenerbahce Istanbul, gilt bei vielen als verrückt, aber dies ist ein Job für Verrückte. Er könnte wenigstens Mut entfachen, der fehlte Völlers Harmoniehaufen, in dem keinen der Zorn packte. Daum wurde vor vier Jahren für die Ideallösung gehalten. Aber er wurde untragbar, Kokainkonsum, dreistes Abstreiten, schließlich die Flucht nach Art eines Kriminellen. Und untragbar als Bundestrainer ist er noch heute, dies ist kein Posten, der für Resozialisierungsmaßnahmen geeignet wäre.
Otto Rehhagel, Held der Hellenen? Hat bereits erklärt, den Griechen auch in Zukunft den Fußball erklären zu wollen. Es wäre das falscheste aller Signale, diesen Mann der ganz alten Schule zum Anführer der Rasselbande zu machen.
Bleibt Ottmar Hitzfeld. 17 Titel hat er geholt, mit Dortmund und dem FC Bayern die Champions League gewonnen. Ein Mann von Format, in jeder Beziehung. Ausgerechnet Michael Ballack aber müsste sich Sorgen machen. Zwar stellte sich auch Hitzfeld stets vor den viel gescholtenen Star. Aber der Coach verstand es nicht, anders als Rudi Völler, Ballacks außergewöhnlich facettenreiche Begabung zur Entfaltung zu bringen. Daran würde Hitzfeld sich messen lassen müssen.
Aus München ist dieser Tage weitere Kritik zu hören: Hitzfeld habe die jungen Spieler wie Santa Cruz, Rau, Hargreaves nicht weitergebracht, ließ zuletzt lasch trainieren, spielte taktisch stur. Dabei galt dies früher als seine besondere Stärke, allzu oft hat Hitzfeld schon bewiesen, dass er als Stratege ein reifes Team zum Allerhöchsten führen kann. Aber eine derart labile, gehemmte Mannschaft wie die deutsche Nationalelf? In seiner letzten Saison beim FC Bayern litt Hitzfeld, 55, auch wenn er dies zu verstecken suchte. Er wollte danach pausieren, Kraft schöpfen. Wenn Mayer-Vorfelder es ihm nicht vergällt, wird er sehr bald schon sehr viel Kraft geben müssen. Ob er sie hat?
Und wenn Hitzfeld absagt, des Pokerns leid? Wäre die Not groß. Vielleicht fiele die Wahl auf Guus Hiddink. Einen Holländer. Wenn der will.
Denn dieser Job verspricht keinen Ruhm: Bis zur WM stehen zwei Jahre voller bedeutungsloser Testspiele ins Haus, zwei Jahre im Bewusstsein, beim letzten Turnier gescheitert zu sein. Zwei Jahre sind grausam lang. Und doch nicht lang genug für den deutschen Fußball. Egal, welcher Meistermacher sein Glück versuchen wird: Die WM 2006, sie kommt zu früh.