In jeder anderen Mannschaft würde man sich aufregen über einen wie ihn. Über einen, der über den Platz schlendert, scheinbar lustlos. Der pro Spiel gerade mal fünf Kilometer läuft, während andere auf 13 Kilometer kommen und sich mit Krämpfen herumplagen.
In jeder anderen Mannschaft würde man sich aufregen über einen, der zehnmal zu aussichtlosen Dribblings ansetzt und dabei neunmal scheitert.
Aber das zehnte Mal kann entscheidend sein.
Im Halbfinale gegen die Niederlande tauchte Lionel Messi komplett unter. Er wurde gut abgeschirmt. Manchmal standen ihm drei Holländer auf den Füßen rum. Aber in zwei Situationen zog er vier Gegenspieler auf sich, dribbelte einen aus und spielte den öffnenden Pass. Wären seine Mitspieler etwas cleverer gewesen, hätte Argentinien die Torchancen genutzt und das Spiel entschieden.
Mitspieler sprechen von Messi wie Fans
So wie gegen die Schweiz, als Messi di Maria vor dem entscheidenden 1-0 freispielte. So wie gegen Bosnien. Wie gegen den Iran. Wie gegen Nigeria. Jedes Mal war Messi nach mäßigem Spiel der entscheidende Mann. Viermal war er "Man of the Match".
Zum überragenden Spieler dieser WM macht ihn das noch nicht. Das kann sich heute ändern.
Dass die Rolle Lionels Messi so ganz anders ist als die von Neymar, Arjen Robben oder Thomas Müller, sieht man nicht nur an Spielweise und Laufleistung, sondern an den Statements seiner Mitspieler. Vor dem großen Finale gegen Deutschland sagt Mittelfeldspieler Lucas Biglia: "Der Schlüssel zum Erfolg ist eine große kollektive Arbeit, damit 'el fenómeno' seinen Tag haben kann." "Fenómeno" ist natürlich Messi. Spieler wie Biglia sprechen von ihm wie Fans. Biglia sagt: "Wir stehen alle hinter ihm. Wir werden alles dafür tun, damit er sich zum Größten der Geschichte krönen kann."
Es geht heute nicht nur um den WM- Titel. Es geht um den Titel: größter Spieler aller Zeiten. Um den Aufstieg in jene Kategorie, in der sich - nach dem Verständnis der Südamerikaner - nur zwei andere befinden: Maradona und Pelé. Messi wird als Kapitän mit der Nummer 10 auf dem Rücken sein Land im WM-Finale gegen Deutschland anführen - exakt wie Diego Maradona vor 24 Jahren. Doch im Gegensatz zu Maradona hat Messi alle wichtigen Titel gewonnen, die Champions League gleich dreimal. Im Gegensatz zu Maradona war Messi viermal bester Spieler der Welt.
Und im Gegensatz zu Maradona würde Messi sich nie selber als besten Spieler aller Zeiten bezeichnen oder auch nur mit Maradona vergleichen. Messi hat ihn immer bewundert. Das einzige Buch, das er je las, was jenes über Maradona - "Yo soy el Diego". Als Maradona anrief, um dem damals 17jährigen zu seinem ersten Tor für den FC Barcelona zu gratulieren, brachte Messi kein Wort heraus. Als die beiden später bei der WM 2010 zusammenarbeiteten, gingen sie unter, Maradona als Trainer, Messi als sein Star, 0-4 gegen Deutschland. Messi schoss in Südafrika nicht ein einziges Tor.
"Keiner wird Diego je erreichen", sagt Messi über sein Vorbild. Pep Guardiola und Xavi sehen das anders. Sie halten Messi schon jetzt für den besten Fußballspieler aller Zeiten.
Es gibt bei dieser WM keinen vergleichbaren Weltstar – und vielleicht lange nicht wieder. Die Deutschen arbeiten im Kollektiv. Cristiano Ronaldo hatte kein Team. Das Spiel Brasiliens war zwar auch auf Neymar zugeschnitten, aber er war lediglich in zwei Spielen gegen Kroatien und Kamerun der entscheidende Mann. Argentiniens Strategie war von Anfang an die totale Ausrichtung auf eine kompakte Defensive und die Geistesblitze Leo Messis.
Mascherano ist der wahre Anführer
Bei dieser WM in Brasilien gibt sich Messi wie immer. Er hält sich zurück. Er gibt keine Interviews, er geht nicht zu Pressekonferenzen - und wenn er es doch mal muss, weil er wieder mal zum "Man of the Match" gewählt wird – gibt er drei kurze nichtssagende Antworten und verschwindet wieder. Er fühlt sich wohler mit seinen Jungs im Team, er zieht sich zurück, so wie er sich sonst gern mit seiner Playstation zurückzieht. Er ist schüchtern, aber kein Eremit. Wer ihn im Training sieht, erlebt einen Spieler, der seine Späße mit Mitspielern macht. Wer ihn nach dem Finaleinzug beobachtete, sah einen, der ausgiebig feiern kann.
Der wahre Anführer Argentiniens ist er deswegen nicht. Das ist Javier Mascherano. Der Caudillo. Der Prellbock, der Krieger. Es gibt viele Namen für ihn. Alles läuft über Mascherano. Er verteilt die Bälle. Er rettet in letzter Not. Er gibt die Anweisungen. Deshalb wäre der Einsatz di Marias gegen Deutschland heute so wichtig, als zweite Waffe neben Messi. Gegen Holland war Argentinien leicht auszurechnen.
Ein Titelgewinn wäre der letzte Akt der Versöhnung zwischen Argentinien und Lionel Messi. Seit 13 Jahren lebt er in Barcelona, Immer wieder warf man ihm vor, alles für Barca zu geben, aber zu wenig für sein Vaterland. Diese Diskussion dürfte mit diesem Turnier endgültig beendet sein. Messi hat Argentinien ins Finale geführt. Er hat heute endlich den Auftritt seines Lebens. Er kann immer noch der Spieler des Turniers werden. Bereits jetzt hängt er als Werbeikone überall in den argentinischen Städten.
Messi, der WM-Titel und der Papst - es wäre eine Menge für ein Land, das am Rand des Staatsbankrotts steht.