Für Manuel Neuer muss es ein Deja-vu gewesen sein. Wie vor vier Jahren tauchten wieder ein paar Männer im grünen Trikot ziemlich frei vor seinem Tor auf. Wieder und wieder mussten seine Innenverteidiger-Kollegen zu gewagten Grätschen ansetzen, um einen einschussbereiten Stürmer am Torschuss zu hindern. Und ein, zwei Mal musste Neuer sogar selbst zu seinen inzwischen berühmt-berüchtigten Rettungs-Ausflügen vor dem Strafraum ausrücken.
Was anders war als vor vier Jahren: Diesmal war es das Team aus Mexiko und nicht aus Algerien, das die deutsche Nationalmannschaft in Verlegenheit gebracht hat. Und es war das erste Gruppenspiel und nicht ein WM-Achtelfinale. Und - der größte Unterschied - diesmal mündete der behäbig-fahrige Auftritt der DFB-Elf tatsächlich in eine Niederlage, und sie kam nicht mit dem blauen Auge eines 2:1-Siegs nach Verlängerung davon.
Das Ergebnis jedoch war das gleiche: Die Fußballnation ist verunsichert. Aufstellung. Spiel-Idee, Kaderzusammenstellung - plötzlich steht alles infrage, was zuvor noch als Garant des Erfolgs galt.
Mertesackers "Eistonnen"-Interview war die Initialzündung
Aber womöglich liegt gerade in der Erinnerung an das Algerien-Spiel der Keim der Wiederauferstehung. Damals gab es eine Reaktion der Spieler - und des Bundestrainers auf die desolate Leistung. Die Spieler - allen voran die erfahrenen Lahm, Klose und Schweinsteiger - sorgten dafür, dass sich die Reihen schlossen. Unvergessen das legendäre "Eistonnen"-Interview von Per Mertesacker, in dem er das Team vor der überbordenden Medienschelte in Schutz nahm.
Vor allem aber: Bundestrainer Joachim Löw zeigte sich offen für taktische Änderungen. Der (gemeinsam mit der Mannschaft entwickelte Schachzug), Philipp Lahm nach dem Algerien-Spiel aus dem Mittelfeld auf seine angestammte Rechtsverteidiger-Position zu ziehen, gilt als Schlüssel für das siegreiche Viertelfinale gegen Frankreich und letztlich für den gesamten weltmeisterlichen Turnierverlauf.
Neuer: "Wir sind sauer auf uns selbst"
Im Moment wird auch wieder viel geredet im DFB-Team. "Wir setzen uns zusammen und sagen uns ehrlich die Meinung. Da nehmen wir kein Blatt vor den Mund", sagte Kapitän Manuel Neuer auf der Pressekonferenz am Dienstag. Und fügte hinzu: "Wir sind sauer auf uns selbst, was wir auf dem Platz gezeigt haben."
Ob die Kommunikation Früchte trägt, wird letztlich erst das Spiel am Samstag gegen Schweden zeigen. Erst dann wird man auch sehen, wie Löws aktuelle Strategie zur Krisenbewältigung aussieht. Wagt er tatsächlich den Befreiungsschlag und opfert gestandene Weltmeister wie Müller, Özil, Khedira gegen hungrige Kräfte wie Reus, Goretzka und Brandt? Oder belässt er es bei einer kosmetischen Veränderung, indem er lediglich den tempo- und dribbelstarken Reus ins Team rotiert?
Das geschah in der "Nacht von Malente"
Wieder ist es der Blick in die Vergangenheit, der die Phantasie anregt. Bei der WM 1974 in Deutschland stand die Mannschaft von Trainer Helmut Schön am Pranger, nachdem man in Hamburg gegen die Landsleute der damaligen DDR schmählich mit 0:1 versagt hatte.
Es kam zur sagenumwobenen "Nacht von Malente", die sich als Mythos ins kollektive Gedächtnis der Fußballnation eingebrannt hatte. Trainer Helmut Schön, von Haus aus eher konfliktscheu ("der Zauderer") überließ die Aufarbeitung des Desasters komplett der Mannschaft. Nachts noch rief er das Team zur Vollversammlung im Speisesaal der Sportschule von Malente zusammen. "Ist es das, was ihr als fußballbegeisterte Jungs von zehn, zwölf Jahren wolltet?" fragte er in die Runde. "Ich bin von Euch maßlos enttäuscht!", ließ er seine Spieler wissen und zog sich schmollend auf sein Zimmer zurück.
Zurück blieben die Spieler um Beckenbauer, Müller, Overath, Netzer und gaben sich bei Bier, Whisky und Zigarretten die Kante. Die Diskussion dauerte bis zum frühen Morgen, und am Ende, so geht die Mär, stellte Franz Beckenbauer die Mannschaft um: Hoeneß, Grabowski, Flohe und Cullmann mussten raus, Bonhof, Herzog, Wimmer und Hölzenbein kamen rein. Am Ende wurde man mit einer Ausnahme in dieser Besetzung Weltmeister.
Was sagte Manual Neuer noch? Im Bus, im Hotel, "bei fast jedem Essen" sei diskutiert worden. Schonungslos sei es dabei zugegangen. Eine entsprechende Teamsitzung dauerte dabei über eine Stunde länger als geplant.
Das ist noch keine "Nacht von Malente", aber wer weiß, vielleicht wird ja auch diese "Stunde von Watutinki" einmal in die deutsche WM-Historie eingehen.
