Fußball-WM 2022 Sehnsucht nach den Rumpelfüßlern: Warum die Abwehr plötzlich die Problemzone im deutschen Spiel ist

Nico Schlotterbeck
Training vor dem deutschen WM-Auftakt: Der Abwehrspieler Nico Schlotterbeck befindet sich aktuell in einer Schaffenskrise – wie viele seiner Defensiv-Kollegen
© GES/Markus Gilliar / Picture Alliance
Bundestrainer Hansi Flick ist in Katar als Mangelverwalter gefragt: Kurz vor der ersten WM-Vorrundenpartie gegen Japan befinden sich viele seiner Verteidiger in einer Schaffenskrise. Nur Torwart Neuer und Innenverteidiger Rüdiger sind gesetzt.  

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurden die deutschen Fußballer als Rumpelfüßler verlacht. Anfang der Nullerjahre war das, die Welt machte sich lustig über die Deutschen, denen der Ball am Fuß so gar nicht gehorchen wollte. Die Bundestrainer nannten sich damals Teamchefs und hießen Ribbeck und Völler. Die beiden Trainer mussten viel Spott ertragen – eines jedoch sprach man auch ihren Mannschaften nicht ab: Dass sie sehr solide verteidigen. Grätschen, Treten und Zerren, das war der Wesenskern des deutschen Fußballs. Sogenannte Tugenden, auf die auch in spielerisch dunklen Zeiten Verlass war.

Die Ära der deutschen Defensivkunst endet nun jäh. Erstmals seit Jahrzehnten ist die Abwehr die große Problemzone im deutschen Spiel. Vor der ersten WM-Vorrundenpartie gegen Japan (14 Uhr, live in der ARD) sind in der Verteidigung nur zwei von fünf Planstellen fest vergeben: Im Tor wird Manuel Neuer stehen und in der Innenverteidigung Antonio Rüdiger. Ansonsten: alles offen.

Deutsche Verteidigung vor der WM 2022 in der Krise

Bundestrainer Hansi Flick ist als Mangelverwalter zur Weltmeisterschaft nach Katar gereist. Er hat durchaus ein paar Verteidiger im Kader, bloß stecken die meisten von ihnen in einer Schaffenskrise.

Beispiel Niklas Süle: Bei seinem Verein Borussia Dortmund musste er zuletzt auf der Rechtsverteidiger-Position aushelfen, was ihn sichtlich überforderte. Bei der 2:4-Niederlage gegen Mönchengladbach irrlichterte Süle umher, ebenso wie Mats Hummels, dessen WM-Nominierung viele aus der Branche gefordert hatten. Nach dem Gladbach-Spiel verstummten diese Rufe; es ging dann nur noch um Süle und um dessen Formschwäche so kurz vor Katar.

Hansi Flick übt sich derweil in Zweckoptimismus. Ende Oktober, bei einem Gespräch mit dem stern in der Frankfurter DFB-Zentrale, sagte er: "Wir haben viele gute Leute und viele Optionen, ich mache mir da keine Sorgen."

Tatsächlich? Bis auf Antonio Rüdiger, Champions League-Sieger 2021 mit Chelsea und jetzt bei Real Madrid unter Vertrag, besitzt kein Verteidiger internationale Klasse. Von David Raum hieß es langezeit, er könne den sogenannten nächsten Schritt machen und in die Liga der europäischen Spitzenspieler aufsteigen, doch seine Entwicklung stagniert. Im Sommer war der 24 Jahre alte Linksverteidiger für mehr als 20 Millionen Euro von Hoffenheim zu RB Leipzig gewechselt. Seitdem gelingen ihm seine gefürchteten Flankenläufe immer seltener. Seine Wucht und seine Dynamik, früher oft gelobt, wirken heute nur noch wild und chaotisch. Viele seiner Bälle erreichen den Adressaten nicht; Raum scheint sich selbst verloren zu haben auf dem Weg von Hoffenheim nach Leipzig.

Ein ähnliches Bild bei Nico Schlotterbeck. Auch er ein Hochbegabter, auch er wechselte den Verein und sucht seitdem die Form früherer Tage. Beim SC Freiburg war Schlotterbeck, 22, der Abwehrchef, bei Borussia Dortmund ist er nun die Rolle des Azubis gerutscht. Gerade in der Champions League wurden Schlotterbeck Grenzen aufgezeigt. Er beging leichtfertige Fouls (wie gegen Manchester Citys Erling Haaland) die zu Strafstößen führten; er wagte sich immer wieder weit raus ins Mittelfeld, statt die Defensive zu stabilisieren.

Schlotterbeck ist gemeinsam mit Jamal Musiala (19, FC Bayern) und Florian Wirtz (19, Leverkusen) eines der größten Talente im deutschen Fußball. Aber eben auch nur ein Talent, ein Versprechen auf eine große Zukunft. Unwahrscheinlich, dass Flick den Innenverteidiger gegen Japan an die Seite von Antonio Rüdiger stellt.

Gegen Japan kommt es auf die Defensive an

Schwierig ist die Situation auch auf der rechten Abwehrseite: Das Experiment, den Gladbacher Mittelfeldspieler Jonas Hofmann zum Rechtsaußen umzuschulen, ist gescheitert. Hofmann hat in der Offensive seine Qualitäten; die Absicherung nach hinten dagegen ist seine Sache nicht. Wahrscheinlich wird Tilo Kehrer, 26, ihn ersetzen; ein vielseitiger Abwehrmann, der alle Positionen in der Viererkette spielen kann – aber auf keiner herausragt. Bei Paris Saint Germain war er in der vergangenen Saison oft nur Reservist, was Kehrer dazu bewog, es nun bei West Ham United zu versuchen, einem englischen Mittelklasseverein.

Auf die Abwehrleistung wird es gegen Japan besonders ankommen. Das DFB-Team geht als Favorit ins Spiel, es wird viel Ballbesitz haben und weit aufrücken. Um so wichtiger wird es sein, sich nicht von Kontern überraschen zu lassen wie zuletzt in den Nations League-Spielen gegen Ungarn und England.

So schön, so mitreißend das deutsche Spiel geworden in der Offensive ist unter Hansi Flick, ein paar von den alten Rumpelfüßlern könnte die Mannschaft jetzt gut gebrauchen. Auch wenn Flick das natürlich niemals zugeben würde.

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