Wenn er weiter so kippelt auf seinem Stuhl, die Beine hoch auf dem Tisch, dann fällt er gleich um - durch die Klapptür, direkt ins Bett. Dirk Nowitzki hat fürs Interview sein Wohnzimmer im olympischen Dorf vorgeschlagen. Ein karger Raum, möbliert nur mit Stuhl, Tisch, Schrank. Christian Schwarzer kommt durch die Tür, Begrüßung per Handschlag, der wie Armdrücken aussieht. "Alter, fit schaust aus!", ruft Nowitzki und reißt Schwarzer an sich. Zum Gespräch hauen sich beide in ihre Plastikstühle, Nowitzkis Augen leuchten. Am Abend zuvor durfte er bei der Eröffnungsfeier die deutsche Fahne tragen.
Herr Schwarzer, Sie sind Welt- und Europameister geworden, haben die Champions League gewonnen - aber die deutsche Fahne trug Ihr Freund Dirk Nowitzki, der es bis heute nur zu einem Titel gebracht hat: unterfränkischer Tennismeister in der Jugend.
Schwarzer: Wahnsinn, oder? Da kommt so ein junger Kerl daher und kriegt gleich die Fahne in die Hand gedrückt, während ich mit meinen 38 Jahren und den ganzen Pokalen … Nein, kleiner Scherz. Ich bin nicht enttäuscht, nicht neidisch, null. Dirk gönne ich es. Er ist ein absoluter Weltstar, der einzige, den wir haben in Deutschland, und der gehört nach vorn.
Wie hat sich das angefühlt, als Fahnenträger eine Runde im Olympiastadion zu drehen, vor 90.000 Zuschauern, Herr Nowitzki?
Nowitzki: Ach, wenn es nur die eine Runde gewesen wäre ... Mir lief es schon vorher kalt den Rücken runter, als wir im Tunnel auf unseren Einzug warteten. Ich stehe ganz vorn, hinter mir 200 oder 300 Athleten und Funktionäre, und plötzlich fangen alle an zu singen: "Wir woll'n die Fahne seh'n, wir woll'n die Fahne seh'n". Ich war total überwältigt. Fertig mit den Nerven, zugleich randvoll mit Glück.
Schwarzer: Vor allem warst du ein super Fotomodell. Sie glauben ja gar nicht, wie viele Sportler sich auf der Eröffnungsfeier mit Dirk knipsen lassen haben. Das war wie im Kindergarten, die haben gekreischt und gedrängelt.
Nowitzki: Na komm, Blacky, du wolltest auch Fotos.
Schwarzer: Ja, aber nicht mit dir drauf, sondern mit echten Superstars aus dem Basketball wie Kobe Bryant, Lebron James und Jason Kidd. (lacht, gibt Nowitzki einen Knuff in die Rippen).
Herr Nowitzki, nervt Sie der Rummel nicht? Sie haben vor den Spielen gesagt, Ihr Traum sei es, abzutauchen im olympischen Dorf, einfach einer von 10.000 Sportlern zu sein.
Nowitzki:
Klappt leider nicht. Wenn ich ein paar Schritte aus unserer Wohnung gehe, stehen da schon die Ersten und wollen eine Unterschrift oder ein Bild. Ich mach das gern, nur jetzt, wo die Spiele laufen, muss ich mich wieder mehr auf mich konzentrieren. Ich bin ja hier nicht als Tourist, wir wollen was reißen.
Schwarzer:
Ich musste das erst lernen, wie das geht: Olympische Spiele. 1996 in Atlanta war das alles ein bisschen viel für mich, die totale Reizüberflutung. Bei einer WM oder EM kriegt man ja vom Drumherum kaum was mit: Hotel, Bus, Halle, acht Spiele in elf Tagen und auf Wiedersehen. So ein olympisches Dorf aber ist praktisch die ganze Welt in Klein, da kommt man mit so vielen Menschen in Berührung, da möchte man am liebsten den ganzen Tag nur gucken und reden. Aber das geht nicht, dann verlierst du das Gefühl für dich selbst, und wenn du nicht aufpasst, verlierst du auch Spiele.
Haben Sie einen Lieblingsort im olympischen Dorf, Herr Nowitzki?
Nowitzki:
Nein, ich bin noch dabei, alles abzuchecken. Letztens war ich im Kraftraum, unfassbar, was da für Typen rumlaufen. Aus der NBA (nordamerikanische Basketball-Profiliga, die Red.) bin ich ja schon dicke Arme gewöhnt - aber wenn da so ein Gewichtheber auf der Hantelbank liegt, ohne Shirt, das sind richtige Landschaften aus Muskeln, Adern und Sehnen, die sich auf so einem Körper abzeichnen. Das ist ja fast Kunst. Hat mich schwer beeindruckt.
Herr Schwarzer, Sie sind einer von weltweit mehr als 100 Topathleten, die einen offenen Brief an Chinas Regierungschef Hu Jintao unterzeichnet haben. Darin verlangen Sie die Einhaltung der Menschenrechte und die friedliche Lösung der Tibetfrage. Aus dem deutschen Team haben nur wenige Sportler unterschrieben. Wie erklären Sie sich das?
Schwarzer:
Ich kann nur für mich sprechen und sagen, dass ich es wichtig finde, Position zu beziehen. Das habe ich mit diesem Brief gemacht, und das ist es dann auch. Jetzt, wo die Spiele laufen, ist es legitim, dass sich die Sportler nur um ihre Wettkämpfe kümmern. Dass wir Aktive überhaupt in eine politisch heikle Situation gebracht werden, ist der eigentliche Skandal.
Herr Nowitzki, ausgerechnet Sie haben bislang keine Position bezogen. Die Chinesen verehren Sie, Ihr Wort hätte hier Gewicht.
Nowitzki: Ich bin, ehrlich gesagt, kein politischer Mensch. Ich hatte keine Zeit, mich mit China zu beschäftigen. Es ist nicht Faulheit oder Desinteresse, aber ich habe fast das ganze Jahr volles Programm. Es ist einfach so, dass mir Hintergrundwissen fehlt. Wenn ich das Gefühl habe, mich mit einem Thema nicht richtig auszukennen, halte ich lieber meinen Mund.
Schwarzer: Und das ist auch dein gutes Recht. Wir Sportler können nichts dafür, in welchem Land die Spiele ausgetragen werden. Man fragt uns nicht. Dabei ist Olympia für uns Athleten das Größte, und diesen Höhepunkt der Karriere sollte man uns jetzt nicht madig machen.
Verfolgen Sie denn, wie es den anderen Deutschen ergeht, den Fechtern, den Schwimmern - oder wenigstens Ihren Kumpeln?
Schwarzer:
Es ist gar nicht leicht, den Überblick zu behalten. Wie es beim Dirk und seinen Jungs läuft, da mache ich mich schon schlau, klar. Leider kann ich in der Vorrunde nie zuschauen, wir Handballer spielen immer am selben Tag wie die Basketballer. Dabei liebe ich Basketball.
Nowitzki:
Und ich Handball. Ich hab's früher sogar gespielt. Mein Vater hat mich trainiert, bis zur C-Jugend, glaube ich. Und als ich aufgehört habe, war er enttäuscht, so enttäuscht, dass er aufgehört hat als Coach. So gesehen habe ich vielleicht eine Trainerkarriere auf dem Gewissen.
Schwarzer:
Ich glaube, aus dir hätte ein richtig guter Handballer werden können. Ich hab mal ein Foto von dir gesehen, da machst du einen Sprungwurf. Muss schon sagen: klasse Körperhaltung in der Luft.
Nowitzki:
Na, ich weiß nicht. Ich bin ja eher so der Typ Dachlatte. Eines hab ich im Handball jedenfalls gelernt: Durchsetzungsstärke. Wenn ich dich sehe, Blacky, was du am Kreis einstecken musst, wie da geklammert, gekniffen und geboxt wird - da hab ich's noch gut. Obwohl Basketball auch immer physischer wird. Als ich anfing, galt Basketball noch als das körperlose Spiel. Heute ist das Vollkontaktsport.
Ist es das, was Sie am Basketball fasziniert, Herr Schwarzer?
Schwarzer: Ich mag eher die Eleganz, die fließenden Bewegungen. Basketball ist einfach ein schönes Spiel. Dummerweise spielt die NBA immer zu Zeiten, wenn in Europa Nacht ist. Da krieg ich live nicht so viel mit.
Wie halten Sie beide überhaupt Kontakt?
Nowitzki:
Während der Saison schreiben wir uns ab und zu eine E-Mail, obwohl, ich muss zugeben: Ein großer Poet bin ich nicht. Meist nur ein, zwei Zeilen. Alles klar bei mir, Gruß Dirk. So in diesem Stil.
Schwarzer:
Im letzten Jahr habe ich Dirk mal besucht. Ich bin mit vier Freunden nach Dallas geflogen, zu einem Spiel der Mavericks. Dirk hatte die Tickets besorgt, und nach der Partie hat er uns noch eine Führung durch die Halle der Mavericks gegeben. Das hat Dirk tatsächlich gemacht, obwohl er eine Stunde später nach Indiana weiterfliegen musste.
Sie scheinen nicht nur ein Freund von Dirk Nowitzki zu sein, sondern auch ein Fan. Sie trugen bei der WM 2007 auf Ihrem Trikot sogar die 41 - seine Nummer.
Schwarzer:
Absolut: Ich bin Fan von Dirk. Vor allem von seiner Art, wie er mit seiner Rolle als Superstar umgeht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ihn die Erfolge in der NBA verbogen hätten, er ist - auch wenn es wie ein Klischee klingt - er selbst geblieben. Bescheiden, selbstkritisch, ohne Allüren. Wenn einer ständig den Macker raushängen lassen würde, wäre so was wie Freundschaft zwischen zwei Menschen auch gar nicht möglich.
Wie haben Sie sich kennengelernt?
Nowitzki: Vor sechs Jahren war das, glaube ich, über Kretzsche (Stefan Kretzschmar, ehem. Handball-Nationalspieler, die Red.). Zu dem hatte ich schon einen Draht, und der war Blackys Zimmerkollege im Nationalteam. Die beiden hatten damals so ein Managerspiel, so ein Computerding, wo man sich virtuell ein Basketball-Team zusammenkauft und dann eine Meisterschaft ausspielt. Beide hatten mich in ihrer Mannschaft, die realen Ergebnisse haben gezählt, und ich hab dann öfter mal eine SMS von Blacky gekriegt: Du musst mehr Punkte machen, mehr Assists, tu was! Ich lieg hinten!
Und, haben Sie ihn retten können?
Nowitzki:
Hoffe ich doch. Oder, Blacky?
Schwarzer:
Ist schon so lange her, aber ich sag mal: ja. Jedenfalls hast du uns bei der Nationalmannschaft viel Spaß gemacht, wir haben viel rumgezockt mit diesem Managerspiel, vor allem auf großen Turnieren. Irgendwie musst du die tote Zeit zwischen den Partien füllen.
Dies sind Ihre vierten Olympischen Spiele. Sie haben schon zwei Rücktritte aus dem Nationalteam hinter sich. Sind Sie in London 2012 auch noch dabei?
Schwarzer:
Dann bin ich ja 42. Nein, ich spiele noch eine Saison bei den Rhein-Neckar Löwen, und dann ist Schluss.
Nowitzki:
Und ich mach alles nach Gefühl. Wenn ich nicht mehr mit Spaß zum Training gehe, höre ich auf. Sofort. Und was die Nationalmannschaft betrifft: Keine Ahnung, wie das mit mir weitergeht. Erst mal will ich hier ein geiles Turnier spielen. An Olympia denke ich schon, seit ich 13 oder 14 bin. Das war immer mein großes Ziel, und jetzt bin ich endlich da. Ich kann das richtig genießen. Obwohl ich auch schon 30 bin.
Spüren Sie, dass Sie älter werden?
Nowitzki:
Morgens nach dem Aufstehen knacken schon mal Knochen, die früher nicht geknackt haben. Oder mir tun die Füße weh, manchmal ist eine Schwellung drin. Aber das kriege ich alles wieder rausgeschüttelt, ich mache mich länger warm, vor allem gewissenhafter. Der Körper eines 30-Jährigen will gut gepflegt werden.
Schwarzer:
Ich hab bis jetzt das Glück gehabt, von großen Verletzungen verschont geblieben zu sein, das ist einer der Gründe, warum ich noch auf der Platte stehe. Ein anderer ist: Ich bin ein Mannschaftstyp. Ich liebe das, im Team zu spielen und nicht für mich allein kämpfen zu müssen.
So wie in Athen 2004, als Sie nach mehreren Herzschlagspielen im Finale standen. Damals hieß es in Ihrem Team, der Blacky gehörte eigentlich ins Krankenhaus, so fertig ist der.
Schwarzer:
Augen zu und durch. Olympia-Gold ist der einzige Titel, der mir noch fehlt. Das wäre ein Traum. Wenn man so Erfolg hat wie wir in den letzten Jahren, erlebt man Momente, die man sich für kein Geld der Welt kaufen kann. Die sind in dir gespeichert, ein Leben lang.
Nowitzki:
Bei mir ist es die WM-Bronze 2002 und das EM-Silber 2005. Gut, das sind keine Titel, aber blinken tun die Medaillen auch. Und ich habe ja noch ein paar Chancen. Irgendwas zum Anfassen werde ich schon noch gewinnen.
Wie wär's damit hier in Peking?
Schwarzer (grinst):
Da würde ich nicht unbedingt drauf wetten.
Nowitzki:
Ja, das wird schwer. Wir sind ja nur Außenseiter, anders als Blacky und seine Jungs. Dass wir Basketballer hier in China überhaupt dabei sein dürfen, das ist schon was für die Ewigkeit.
Tags darauf wird es ernst, für beide, binnen weniger Stunden. Elektrisiert wie ein Boxer vor dem ersten Punch tänzelt Nowitzki durch das 18.000 Zuschauer fassende Olympic Basketball Gymnasium. Kaum still stehen kann er, als die Nationalhymne erklingt. Dann spielt er, und er spielt stark. "In den letzten Tagen hat sich die Nervosität doch angestaut", wird er nach dem Match gegen Angola sagen, das die Deutschen souverän gewinnen.
Am anderen Ende der Stadt, kurze Zeit später, wirft Schwarzer das erste Tor für Deutschland, seine Mannschaft besiegt Südkorea. Schweiß rinnt über die Furchen seines Gesichts, als er nach der Partie durch die Katakomben schlurft. Knie und Ellbogen schützen Bandagen, die ihn wie einen Skateboarder aussehen lassen. Schwarzer sagt: "Es ist einfach schön, noch mal mittendrin zu stehen."