Mit Vorgaben und Zielsetzungen ist das so eine Sache. Man kann daran gemessen werden. Bei Olympischen Spielen ist das permanent der Fall. Obwohl vorgeblich das Motto "Dabei sein ist alles" gilt, schielen nicht nur die Fans, sondern auch Sportler und Funktionäre ständig auf den Medaillenspiegel. Und da ist aus deutscher Sicht buchstäblich nicht alles Gold was glänzt.
44 plus X - orientiert an der Ausbeute in London 2012 - hatte der Deutsche Olympische Sportbund (DOSB) vor den Spielen von Rio vorgegeben. Dass das nichts wird, ist zur Halbzeit der Spiele von Rio klar. 17 Medaillen haben deutsche Sportler bisher gesammelt, und man darf wohl zufrieden sein, wenn sich dieser Wert verdoppeln sollte. Dass die Olympiamannschaft trotzdem weit oben im Medaillenspiegel rangiert, verdankt sie dem erfreulichen Umstand, dass bisher jede zweite Medaille eine goldene war.
Ringen? Boxen? Selbst bei Olympia fast vergessen
"Es zeichnet sich ab, dass wir die in London gesetzte Marke nicht erreichen werden", gab Delegationschef Michael Vesper inzwischen zu. Weitaus deutlicher wurde DOSB-Präsident Alfons Hörmann. In zahlreichen Sportarten seien die Deutschen schlichtweg nicht mehr konkurrenzfähig: "Wir haben im Weltsport ein Niveau, das wir in zahlreichen Verbänden nicht mehr vollumfänglich mitgehen können." Ob im Beckenschwimmen, Fechten oder Straßenradsport - in den früheren Medaillenbänken gingen die Deutschen in Rio de Janeiro komplett leer aus. Manche Sportarten, die einst immer wieder für Edelmetall gut waren, sind sogar so aus dem Fokus, dass sie selbst bei Olympia kaum noch beachtet geraten: Boxen oder Ringen beispielsweise. Letzteres stand zuletzt sogar auf der olympischen Abschussliste.
Die 44 plus X hatte Hörmann schon vor Rio als Vorgabe bezeichnet, die "ambitioniert" sei. Gemeint hatte er "utopisch" - und wird damit richtig liegen. "Insgesamt werden wir nach den Spielen in der notwendigen Klarheit darüber reden müssen, wo wir stehen und warum", kündigte der DOSB-Chef am Sonntag an. "Ein 'Weiter so' kann und darf es nicht geben", sagte er in der ARD mit Blick auf das Abschneiden einzelner Fachverbände.
London-Bilanz nochmal unterboten
Vor allem das Abschneiden der medaillenlosen Schwimmer sorgt für Unmut und tiefe Sorgenfalten. Es wird wohl gravierende Veränderungen im Verband nach sich ziehen. "Bei 34 Entscheidungen sieht man, wie bedeutend die Sportart Schwimmen ist", sagte der Sportliche Leiter Dirk Schimmelpfennig. Dass die Medaillenjagd im Wasser eine der tragenden Disziplinen bei Olympia ist, ist allerdings keine neue Erkenntnis.
Mehr als bitter ist, dass die einstige Schwimm-Nation Deutschland schon in London ohne Medaillen blieb. Schon damals gab es große Diskussionen und den Willen, einen neuen Anlauf zu nehmen. Das Ergebnis ist ernüchternd. London wurde nochmal unterboten: weniger Endlauf-Teilnahmen, schlechtere Platzierungen und mit Paul Biedermann tritt zudem einer der wenigen großen Namen ab. Von einem neuen Michael Groß oder einer neuen Franziska van Almsick traut sich im Moment niemand auch nur zu träumen.
Keine Hoffnung auf Schub durch Heim-Olympia
Hinzu kommt, dass es auch in Sportarten, die in Rio positive Schlagzeilen machten, vieles nicht zum Besten steht. Beispiel Rudern: Während die Doppelvierer und der Deutschlandachter bejubelte Medaillen einfuhren, hatten die kleinen Kategorien immense Probleme. Zum Teil fuhren die deutschen Boote selbst in Hoffnungsläufen hoffnungslos hinterher. Wie die Bilanz in der Leichtathletik sein wird, muss sich zeigen; auch hier hieß es schon himmelhoch jauchzend (Diskuswerfen der Männer) und zu Tod betrübt (Stabhochspringen der Männer).
Michael Vesper führt an: "Es bestätigt sich, was wir immer gesagt haben: Es wird schwerer, Medaillen zu gewinnen, weil immer mehr Nationen nachgerüstet haben." Das mag stimmen, und natürlich ist es unrealistisch zu glauben, dass man den großen Nationen wie China oder den USA Paroli bieten könnte. Anders ist das aber bei Großbritannien, dass derzeit in der Breite klar überlegen ist. Die Briten profitieren sicherlich von größeren Anstrengungen für die Spiele in London vor vier Jahren. Darauf können die deutschen Sportler auf absehbare Zeit nicht hoffen, nachdem zuletzt durch Volksentscheide Spiele in Garmisch und Hamburg schon an der fehlenden Akzeptanz in der Gesellschaft scheiterten.
Der Fußball erdrückt alles
Nicht wenige Experten führen die erdrückende Dominanz des Fußballs ins Feld, um zunehmende Misserfoge olympischer Sportarten zu erklären. Die Superstars sind medial ominpräsent. Selbst unbedeutende Vorbereitungskicks werden häufig live übertragen. Jede Kleinigkeit wird öffentlich diskutiert. Davon können die anderen Sportarten nur träumen, professionellere Strukturen als bisher würden trotzdem helfen. Mehr Geld als bisher wäre dazu nötig. Die Mechanismen der Sportförderung sind aber eher so, dass nach Misserfolgen wie im Schwimmen Gelder eher gekürzt werden. "Wenn das passiert, dann können wir gleich aufhören", sagen Schwimm-Insider.
Es scheint, als ob sich der deutsche Sport bald außer im Fußball in vielen Disziplinen für geraume Zeit aus der Weltspitze verabschiedet. Dass dies aber keine zwangsläufige Entwicklung sein muss, zeigen die (wenigen) deutschen Lichtblicke von Rio eindrucksvoll. So haben die deutschen Turnerinnen den Anschluss an die Weltspitze geschafft - und auch eine Medaille geholt. Noch beeindruckender ist das Comeback der Schützen: nach null Medaillen vor vier Jahren holten sie in Rio schon dreimal Gold und zweimal Silber (Bogenschießen inbegriffen).