Winterspiele Auf der Goldspur

Wo sind die Deutschen im Sport noch so richtig groß? Im Fußball? Leider nicht. Beim Schwimmen und Laufen erst recht nicht. Zum Glück gibt's ja noch die Winterspiele, bei denen sie meist mächtig abräumen. Und wenn in Turin die Stars mal patzen, springen neue Helden in die Bresche. Alles eine Frage des Systems.

Seit dem vergangenen Wochenende sind wir wieder eine Wintersportnation. Wir hoffen und bibbern. Wir begeistern uns fürs Schießen, das wir sonst ja mehrheitlich vehement ablehnen, aber jetzt wird eben auf Scheiben und im Schnee geballert. Wir fiebern beim Springen von der Schanze mit, halten Bobfahrer für Teufelskerle und diskutieren die Epo-Frage mit ähnlichem Ernst wie das Atomprogramm des Iran.

Auf einmal sind wir Hettich. Sind wir Greis. Ein Student der Medizintechnik, der in der Nordischen Kombination allen davonflog und -lief, und ein Oberfeldwebel, dem beim Biathlon die Hand nicht zitterte, haben uns gleich zu Beginn der Olympischen Winterspiele in Turin auf die Siegerspur gebracht. Zweimal Gold. Da schmerzten auch ein paar kleine Enttäuschungen die Tage drauf nicht so sehr. Am Ende der Spiele sollen es mindestens 24 Medaillen sein und in der Nationenwertung Rang zwei, so wie vier Jahre zuvor in Salt Lake City.

Die deutschen Selbstzweifel im Sport sind zumindest während der kalten Jahreszeit ein wenig vergessen. Ganz im Gegensatz zum Sommer. Leichtathletik? Bei den Spielen von Athen gab es kein einziges Mal Gold für Deutschland. Fußball? Wann waren wir da noch mal Weltmeister? Tennis? Da schlagen inzwischen Burschen namens Grosjean und Gasquet unsere so genannten Recken - sogar wenn sich die den Belag aussuchen dürfen. Formel 1? Auf Schumacher ist auch kein Verlass mehr. Nicht mal auf Schumacher, den siebenmaligen Weltmeister.

Bleibt nur der Wintersport. Als letzte Hoffnung, als letzte Rettung. "Der Wintersport wurde erfunden, um das Selbstbewusstsein dieses geknickten Landes endlich wieder aufzurichten", glaubt die "Frankfurter Allgemeine" sogar. Und Bundespräsident Horst Köhler läuft in Turin strahlend im Olympia-Dress der Mannschaft herum, diesem Papageien-Outfit, und preist die deutschen Schneekönige ständig als Vorbilder für das ganze Land an.

Die Mission Turin 2006

wurde wie immer akribisch geplant. Thomas Pfüller, Generalsekretär des Deutschen Ski-Verbandes (DSV), hatte die Unterkünfte für die Athleten schon vor zwei Jahren gebucht - da existierte Olympia für Gastgeber Italien allenfalls auf dem Reißbrett. Die horrenden Mietpreise in den Dörfern rund um Sestriere konnten Pfüller nicht abschrecken. Eine halbe Million Euro gab der DSV für die Anmietung von Häusern und Apartments aus - so viel wie noch nie bei Olympischen Spielen.

Die Langläufer zum Beispiel wohnen in renovierten Fachwerkhäusern in Pragelato Plan, nur wenige hundert Meter von der Loipe entfernt. Unten, im umgebauten Viehstall, wachsen Techniker die Ski, oben, in den kieferholzgetäfelten Zimmern, schlafen die Athleten. 70 000 Euro kostet allein ein Haus für vier Wochen.

So weit, so deutsch.

"Solche Summen tun uns schon weh", sagt Pfüller. "Aber wer nicht mit Mumm investiert, bekommt im Leistungssport auch nichts zurück." Der Mut des DSV beschränkt sich nicht aufs Geldausgeben. In den vergangenen Jahren hat der Verband kräftig an seinen Strukturen gewerkelt. Das Stützpunktsystem wurde verfeinert - jetzt trainieren die stärksten Athleten einer Disziplin gemeinsam an einem Ort. Egal, ob sie aus West- oder Ostdeutschland kommen. Das sollte, so könnte man meinen, im Jahr sechzehn nach der Wiedervereinigung eine Selbstverständlichkeit sein. Ist es aber nicht. So liefern sich die Schwimmer bis heute Lagerkämpfe. Ein zünftiger deutsch-deutscher Konflikt, mit beleidigten Ostlern und machtversessenen Westlern, gehört zum Standardrepertoire eines jeden großen Wettbewerbs. Dazu kommen die alten Reflexe, als würde noch immer ein Streit der Ideologien herrschen.

Die Wintersportler kennen da keine Berührungsängste, sind viel pragmatischer: Langläufer Tobias Angerer (West) zieht in Oberhof (Ost) seine Bahnen, Biathletin Kati Wilhelm (Ost) übt in Ruhpolding (West), und Ricco Groß (Ost), ebenfalls Biathlet, ist nicht nur Teilzeit-Wessi - er hat in Ruhpolding ein Haus gebaut und ist sesshaft geworden.

Die Bündelung der Besten

in den Stützpunkten macht aus jedem Training eine kleine Weltmeisterschaft. Wenn Tobias Angerer, die Nummer eins der Weltcuprangliste, durch die nebligen Schluchten des Thüringer Waldes sprintet, jagt ihn die wohl stärkste Langlaufgruppe des Planeten: Axel Teichmann, Weltcupsieger 2005. Franz Göring, Juniorenweltmeister 2004. Jens Filbrich und Andreas Schlütter, WM-Zweite in der Staffel 2003 und 2005. Jede Minute muss Angerer um seinen Platz im Team kämpfen. Das hat ihn stark gemacht, vor allem im Kopf. Auch Rückschläge wie im ersten Rennen von Turin bringen ihn da nicht aus der Spur. "Ich bin viel selbstbewusster geworden", sagt Angerer. "Wer bei uns nicht an sich glaubt, der geht unter."

Das klingt reichlich darwinistisch - doch das Fördersystem, zu großen Teilen in der DDR entwickelt, hat auch eine soziale Seite. Niemand geht wirklich unter, niemand muss um seine Zukunft fürchten. Mehr als die Hälfte der 161 deutschen Olympiateilnehmer in Turin sind durch den Bund beruflich abgesichert. Zoll, Bundeswehr oder Bundespolizei geben den Leistungssportlern einen Job, ohne eine große Gegenleistungen zu fordern. Fleißig trainieren genügt.

Dieses Privileg geniessen Leichtathleten oder Schwimmer natürlich auch. Bloß nehmen es immer weniger in Anspruch. Die Bereitschaft, sich in trainingsintensiven Sportarten bis an die Weltspitze hochzuquälen, hat rapide abgenommen in den vergangenen Jahren. Die Leichtathletik liegt darnieder, das Erbe der DDR ist längst aufgezehrt: Es gibt keine neue Heike Drechsler, keinen neuen Lars Riedel, keine neue Astrid Kumbernuss.

Die Wintersportler hingegen haben kein Nachwuchsproblem. Die Jugendarbeit des DSV ist in den nordischen Disziplinen vorbildlich. Der DSV beschäftigt hundert hauptamtliche Trainer, die Hälfte davon ist für die Begabtesten zuständig. Insgesamt investiert der Verband rund eine Million Euro pro Jahr in die Talentförderung. Vor allem bei den Langläufern rechnet sich das. Die feiern in schöner Regelmäßigkeit große Erfolge: 2004 gewann René Sommerfeldt den Gesamtweltcup, 2005 siegte Axel Teichmann, und für 2006 ist Tobias Angerer ein heißer Kandidat.

Hinzu kommen immer wieder Überraschungstriumphe - wie am vergangenen Wochenende. Hettich und Greis, zwei Athleten, die niemand auf der Rechnung hatte, holten Gold. Oder am Montag die Biathletin Martina Glagow. Alle hatten eine Medaille von Kati Wilhelm erwartet, doch der versagten die Nerven. Glagow sprang ein und gewann Bronze.

Das zeugt von dem großen Potenzial, das sich der DSV über Jahre aufgebaut hat. Das Fundament stimmt, der deutsche Skisport hat die Kraft zur Selbsterneuerung. Er bringt immer wieder neue Helden hervor. Und ist nicht abhängig von ein, zwei Superstars. Wie gefährlich dies sein kann, zeigt beispielhaft das deutsche Tennis. Seit Graf, Becker und Stich in Rente sind, fristet es ein Nischendasein, es wurde abgeschoben ins Programm kleiner Privatsender. Beim Schwimmen liegen die Dinge ähnlich. Franziska van Almsick hat nach den Spielen von 2004 aufgehört - bis heute hat sich niemand gefunden, der die Lücke ein wenig hätte schließen können.

Das Soldatische

des Leistungssports - Disziplin, Entsagungsfähigkeit, Härte gegen sich selbst -, es schreckt die Winterathleten überhaupt nicht. Mit einem Maso-Gen in den Beinen hat das nichts zu tun. Sondern mit modernem Führungsstil. Beispiel Biathlon: Nach der Wende wurde zwar weiter nach Plänen des Arbeiter-und-Bauern-Staates geübt, doch der autoritäre Ton der Trainer und Funktionäre verstummte. Schinderei wurde zum Akt der Freiwilligkeit. "Wir wollen keine Kampfmaschinen, wir wollen den mündigen Athleten", sagt Biathlon-Bundestrainer Frank Ullrich aus Thüringen.

Das ist kein frommer Wunsch geblieben. Der Wintersport hat selbstbewusste Typen hervorgebracht: DJ und Partylöwe Tobias Angerer, Kati Wilhelm mit ihrem feuerroten Zottelschnitt oder Kombinierer Georg Hettich, der seinen Sieg mit diversen Caipirinhas und seinen WG-Freunden aus Freiburg bis in die frühen Morgenstunden feierte, obwohl er in Turin noch ein hartes Programm vor sich hat.

Typen zu haben, "Marken", wie die Werbeleute sagen, ist wichtig geworden. Jede Sportart braucht unverwechselbare Gesichter, um sich zu behaupten im Kampf um Sendezeiten im Fernsehen. Die Biathleten haben sich da perfekt in Szene gesetzt: Starke Charaktere haben sie und, ebenso wichtig: Erfolg. 2002, in Salt Lake City, holten sie dreimal Gold, fünfmal Silber und einmal Bronze.

Natürlich ist die Konkurrenz

im Winter nicht so groß wie im Sommer. Brasilianer spielen nun mal lieber Fußball oder Beach-Volleyball, Afrikaner kennen keinen Schnee, also steigen Kenianer beruhigenderweise auch nicht in den Skilanglauf ein. Und natürlich könnte man nörgeln, Deutschland sei da am stärksten, wo auch auf Schnee und Eis die typisch deutschen Tugend - Maloche statt Genie - zum Sieg führt. Mit Ausnahme von Biathlon sind das nicht unbedingt Wettkämpfe, bei denen der Zuschauer fasziniert hinguckt und die Werbewirtschaft ihre TV-Spots schaltet.

Bei der Skiabfahrt der Männer jedoch, der Königsdisziplin jeder Winterspiele, war Rot-Schwarz-Gold überhaupt nicht zu sehen, und auch in den übrigen alpinen Wettbewerben sind die Aussichten allenfalls mäßig. Der Eiskunstlauf, die Lieblingsdisziplin der Frauen, ist ebenfalls nicht der Deutschen Stärke, und im Eishockey spielen sie mit. Mehr nicht. Bei der Endabrechnung allerdings, der ach so wichtigen Nationenwertung, zählen zum Glück alle Medaillen gleich. Egal, ob sie beim Rodeln oder bei der Herrenabfahrt gewonnen wurden. Die Schönheit des Sports liegt ja letztendlich auch im Ergebnis.

Christian Ewers und Teja Fiedler

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