Herr Leibfried, trotz des wirtschaftlichen Aufschwungs der vergangenen Jahre reicht schon jetzt etwa 1,35 Millionen Menschen in Deutschland der Arbeitslohn nicht mehr zum Leben. Wie stark wird sich diese Entwicklung verstärken, wenn Deutschland von der drohenden Rezession erfasst wird?
Wenn der befürchtete Wirtschaftsabschwung kommt, geht diese Entwicklung in gleicher Richtung weiter. Die Zahl der so genannten Aufstocker, die zu ihrem Lohn noch staatliche Unterstützung hinzu bekommen, ist ja auch stärker gestiegen, als die Zahl der Arbeitslosen sank - es gibt eine Spaltung im Arbeitsmarkt. Und nun werden die Arbeitgeber wahrscheinlich versuchen, durch geringere Löhne dem vollständigen Personalabbau vorzubeugen.
Viele Arbeitsmarktexperten rechnen trotz des Abschwungs mit keiner wesentlichen Verschlechterung am Arbeitsmarkt. Wie passt das mit der drohenden Entwicklung zusammen?
Viele Arbeitsmarktexperten ändern momentan eher im Tages- und Wochentakt ihre Prognosen. Die Voraussagen, die vor einigen Monaten nur wenig Verschlechterung am Arbeitsmarkt - keine höhere Arbeitslosigkeit - vorausgesagt haben, sind inzwischen nicht mehr besonders aussagekräftig. Die aktuellen Arbeitsmarktaussichten für 2009 sind recht düster. Dass der Abschwung den Arbeitsmarkt wenig betreffen wird, das wird heute kaum noch einer sagen, jedenfalls nicht glauben. Eine andere Frage ist, wie sich die Löhne entwickeln werden. Vermutlich werden auch befristete Stellen oder Verträge von Leiharbeitern nicht verlängert werden, wie jüngst etwa bei den Stahlwerken Bremen geschehen.
Umfrage zu Konsumgutscheinen
stern-Kolumnist Hans-Ulrich Jörges würde sich ein Fahrrad kaufen. Angenommen, Sie bekämen einen Konsumgutschein in Höhe von 500 Euro, den sie in den kommenden vier Wochen einlösen müssten: Welches Produkt würden Sie kaufen? Einen Flachbildschirm, eine Weihnachtsgans, ein paar Schuhe oder etwas ganz anderes? Die Konsumgutscheine werden vermutlich an einen Eigenanteil gekoppelt sein, sie müssen also einen Teil Ihres privaten Geldes dazu tun. Daher die zweite Frage: Wieviel würden Sie freiwillig obendrauf legen? 100, 200 oder gar 500 Euro? Schreiben Sie an aktion@stern.de. Wir werten Ihre Antworten aus und werden sie veröffentlichen.
Stehen uns amerikanische Verhältnisse bevor, dass Arbeitnehmer mehrere Jobs brauchen, um ihr Leben bestreiten zu können? Oder ist das für viele schon Realität?
Für viele vielleicht nicht, aber für eine erhebliche Zahl sicherlich, vor allem wenn es sich um Personen mit Familie handelt. Seit den 1980er Jahren beobachten wir ja eine Veränderung des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses. Immer mehr Leute arbeiten Teilzeit, befristet, als Leiharbeiter oder zu Niedriglöhnen, die kaum zum Leben reichen. Oder sie unterbrechen ihr Arbeitsverhältnis immer wieder. Und wenn viele dieser Faktoren laufend zusammenkommen, dann nimmt automatisch die Zahl der Aufstocker zu, die dann in der Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA)auftauchen. Aber immerhin: In den USA gäbe es nicht mal eine Bundesagentur, denn dort gibt es keine Bundesaufstockung von Löhnen durch die Arbeitslosenversicherung.
Zur Person
Stephan Leibfried ist Professor am Zentrum für Sozialpolitik der Universität Bremen. In einem Sonderforschungsbereich widmet sich der Politikwissenschaftler und Jurist der Zukunft des Interventionsstaates.
Nutzen die Arbeitgeber die Aufstockung niedriger Löhne auch dazu, Löhne zu drücken, damit die BA zuzahlt?
Das ist schon ein Problem, seit es überhaupt Sozialleistungen gibt: Wenn sie von staatlicher Seite eine Grundversorgung gewährleisten und man zu diesem Grundbetrag noch durch Arbeit hinzuverdienen darf beziehungsweise Arbeitseinkommen darauf angerechnet wird, wird es immer Arbeitgeber geben, die zu diesem Minimum nur einen Zuschlag zahlen wollen. Es entstehen "Mitnahmeeffekte" bei den Arbeitgebern - aber das ist vom System so gewollt, denn wir wollen die Grundsicherung unbedingt. Diese Problematik findet man bevorzugt in wirtschaftlich eher schwachen Branchen, wie etwa der Gastronomie oder im Transportgewerbe, wo die Unternehmer selbst um ihr Überleben kämpfen.
Daraus darf man keinesfalls schließen, dass man die sozialen Sicherungen streicht. Hartz IV abzuschaffen wäre die falsche Konsequenz. Das wäre erst die richtige Amerikanisierung. Auf einem menschenwürdigen Minimum sollte der Staat, und sollten wir alle, bestehen. Für schwache Branchen sollte man womöglich einen Mindestlohn vorschreiben und gleichzeitig überlegen, wie man die Unternehmen dort stärkt. Es nützt ja niemandem, wenn die Regierung einen Mindestlohn vorgibt und die Unternehmen dieser Branchen deswegen in wirtschaftliche Schwierigkeiten geraten oder aus Angst vor dem Abschwung niemand mehr einstellen. Da braucht es eine Zangenbewegung.
Was kann die Bundesregierung tun, um gerade den unteren Einkommensschichten zu helfen? Nützen Konsumgutscheine oder Konjunkturprogramme etwas? Oder kommen solche Maßnahmen eher denen zugute, die sowieso genug verdienen?
Eine Maßnahme wäre ein kostendeckendes Kindergeld, vielleicht besonders auf die unteren Einkommen zielend. Im Moment deckt das Kindergeld nur etwas mehr als die Hälfte der Kosten, die ein Kind verursacht. Vor allem bei den Aufstockern, die Kinder haben, würde hierdurch das Armutsrisiko deutlich verringert. Es gibt Pläne, die in diese Richtung gehen, das ist vernünftig. Eine zweite vernünftige Maßnahme wäre, wie gesagt, ein Mindestlohn kombiniert mit einer Branchenhilfe. Der Mindestlohn alleine würde uns nur eine moralische Genugtuung verschaffen, aber wohl keine Arbeitsplätze erhalten.
Konsumgutscheine sind mittel- und langfristig Unsinn, als Übergangsmaßnahme mögen sie sinnvoll sein. Stattdessen sollte man lieber in langfristige Projekte investieren und zwar vor allem auch in solche, die auch niedrig Qualifizierte in Arbeit bringen. Wenn sie sich beispielsweise auch intensiv der Baubranche, der Kinder- und der Altenpflege annehmen, so haben sie eine viel höhere Chance, dass sich im mittleren und Niedriglohnsektor eine Sogwirkung entwickelt als wenn sie die Zuschüsse nur in Forschung und Computerchip-Fabriken stecken. Beides muss gleichzeitig geschehen.