Es ist kalt. Martina Schmeddinghoff steht im Herrenklo. Vor ihr ein Pissoir, hinter ihr ein Hüne mit schwarzer Maske. Flapflapflap, hallt es von den weißen Fliesen. "Oh ja, stoß mich", ruft sie. Eine Frau in schwarzem Kleid kniet daneben, streichelt ihr die Oberschenkel. Um die Gruppe kreisen zwei Männer mit Camcordern. Sie tragen Wollpullis und dicke Jacken, Martina Schmeddinghoff nur eine netzartige Bluse. Mehr Netz als Bluse. Sie hält sich mir ihrer rechten Hand am Wasserrohr fest, auf dem Arm hat sie eine Gänsehaut. Flapflapflap. Nach 30 Sekunden ist es vorbei. "Du geile Sau" , sagt sie zum Hünen. Dann werden die Kameras ausgeschaltet.
Martina Schmeddinghoff, 48, ist "Dirty Tina" . Unter diesem Namen findet man sie im Internet auf Webseiten wie "Mydirtyhobby". Sie offenbart aber auch ihren richtigen Namen, eine Ausnahme in ihrer Branche. Anonymität gehört sonst zum Geschäftsprinzip – auch an diesem Mittwochvormittag in einem kleinen Klinkerbau im Norden von Münster. Nicht jeder, der bei dem Dreh mitmacht, hat seinen Ehepartner oder Chef in die Nebentätigkeit eingeweiht. Viele haben Angst, ihren Ruf bei Kollegen, Freunden oder Nachbarn zu riskieren, wenn herauskäme, wer da hinter der Maske steckt.

"Ich habe das erste Mal im Leben das Gefühl, ich bin angekommen"
Martina Schmeddinghoff will sich um ihren Ruf keine Sorgen mehr machen. Lange war sie Vermögensberaterin – da war das Image wirklich katastrophal. Nach der Finanzkrise brach ihr das Geschäft weg. Seit sechs Jahren verdient sie ihr Geld mit Internetpornos. "Das, was ich jetzt mache, fühlt sich viel ehrlicher an" , sagt sie.
In der Welt der echten oder vermeintlichen Amateurpornos gibt es viele Rollen, um die Schaulust der User zu befriedigen. Dirty Tina ist eine "MILF", eine "Mom I'd like to fuck", eine Mutter, mit der Jungs gern vögeln würden. In den USA zählt "MILF" schon lange zu den populärsten Porno-Genres. Martina Schmeddinghoff sagt, dass sie als Sexdarstellerin die Bestätigung bekomme, die sie sich früher immer gewünscht habe. Das klingt nach Floskel, mit der man sich jeden Job schönreden könnte. Aber sie sagt voller Überzeugung: "Ich habe das erste Mal im Leben das Gefühl, ich bin angekommen."
Ihr Elternhaus in Rheine sei der reine Horror gewesen, erzählt sie. Sie wollte weg von ihrem Vater, einem Alkoholiker, der ihre Mutter misshandelte. Sie verließ das Gymnasium nach der zehnten Klasse, lernte Rechtsanwaltsgehilfin, um endlich ausziehen zu können. Sie wechselte zu einer Genossenschaftsbank, wo sie in der Abendschule parallel zum Job die Ausbildung zur Bankkauffrau machte. Schließlich fing sie in einem Büro an, das später zu einem Strukturvertrieb gehörte, einer jener streng hierarchischen Finanzfirmen, in denen Tausende ihren Freunden Versicherungen aufschwatzen – und vor allem die vielen Chefs daran verdienen. Sie war erst Assistentin, später freiberufliche Finanzberaterin.
2008 ging die Lehman-Bank pleite. Martina Schmeddinghoff wählte sich durch das gesamte Adressbuch, aber keiner wollte mehr Finanzprodukte haben. "Mir ging es psychisch damals sehr schlecht" , sagt sie. Einer der schlimmsten Momente war, so erzählt sie mit belegter Stimme, als sie ihrem Sohn keine 2,50 Euro Taschengeld pro Woche mehr zahlen konnte. Da lieh sie sich zusammen mit ihrem Mann 5000 Euro von der Schwiegermutter, konnte nachts nicht mehr durchschlafen. Zum ersten Mal in ihrem Leben habe sie das Beten angefangen: "Gott, zeig mir einen Weg."
Heute versucht sie, sich darüber lustig zu machen. Das Pornogeschäft als Gottesgeschenk! Doch es ist ein Witz, auf den kein Lachen folgt.

Aus der Bankerin Martina Schmeddinghoff wird Dirty Tina
Den Weg wies dann das Internet. Schon vor längerer Zeit hatten Martina Schmeddinghoff und ihr Mann begonnen, sich beim Sex zu filmen. "Das hat mich unglaublich angemacht", sagt sie. Es war der Reiz des Exhibitionismus, aber auch der Reiz des Geldes. Im März 2010 – mit 42 Jahren – veröffentlichte sie ihre ersten Videos. Im ersten Monat verdiente sie 50 Euro und im nächsten Monat schon mehr als 600. Aus der Bankerin Martina Schmeddinghoff wurde Dirty Tina – Pornodarstellerin. Und Sex-Unternehmerin.
Berlin im Oktober 2015. Dirty Tina hatte sich mit ihrer fast 30 Jahre jüngeren Kollegin Anny Aurora einen Stand auf der Erotikmesse Venus gemietet. Auf dem Messegelände waren auch Flüchtlinge untergebracht – die "Heute-Show" des ZDF hatte deshalb ihren Reporter Ralf Kabelka losgeschickt. Er sollte die Pornodarsteller fragen, was die Flüchtlinge von ihnen lernen können. Auch Dirty Tina landete vor dem Mikro. Sie trug eine rotglitzernde Bluse, tiefen Ausschnitt, schwarz geschminkte Wimpern. Später sagt sie, sie habe nicht kapiert, dass die Frage ironisch gemeint gewesen sei. Was müssen Flüchtlinge tun, um so zu werden wie sie? "Da ist Fleiß angesagt, auch 'ne gewisse Professionalität, man muss sich selbst disziplinieren, wenn man das wirklich vollkommen selbstständig macht", antwortete sie. Kabelka hakte nach: "Also deutsche Tugenden so gesehen?" Dirty Tina: "Genau, genau."
Die Pornobranche ist ein schonungsloses Leistungssystem
Martina Schmeddinghoff meint das schon ernst. Fleiß, Disziplin, Pünktlichkeit – genau so habe sie doch den Aufstieg in der Amateurpornobranche geschafft. Sie steht anfangs acht bis neun Stunden pro Tag vor der Webcam. Auch Ostern und Weihnachten, weil es da besonders viele Zuschauer gibt. Zusätzlich dreht sie mit Usern Pornos und entwickelt ihr Image als MILF, als fleischgewordener Traum verklemmter Schuljungs. Sie macht auch schlechte Erfahrungen. Drehpartner, die sie verletzen. Produzenten, die sie als "Hängetitten-Tina" vermarkten. Heute ist sie so erfolgreich, dass sie sich aussuchen kann, mit wem sie dreht. Produktionen, bei denen sie nur wenig Mitspracherecht hat, lehnt sie ab.
Die Pornobranche ist ein schonungsloses Leistungssystem. Darin ähnelt sie der Finanzindustrie. Statt Abschlussstatistiken gibt es Hitlisten, die von den Sex-Seiten geführt werden. Beim Amateur-Portal von Beate Uhse steht Dirty Tina auf Platz eins. Bezahlt wird nach Zuschauerzahl. Dirty Tinas Filme haben hohe Einschaltquoten. "Es macht mich stolz, dass ich als Pornodarstellerin mehr Geld mache als damals in der Bank", sagt sie.
Im kalten Klinkerbau ist die nächste Szene im Kasten. Die Pornodarsteller ziehen sich in einem kleinen Raum um. Minirock und Netzbluse werden nun gegen ein Business-Outfit getauscht: Beim nächsten Dreh spielen die beiden Frauen Pflichtverteidigerinnen. Auf dem Boden liegen Sporttaschen und Unterwäsche, an der Wand hängt ein Nachtspeicherofen, der aber nicht funktioniert. Martina Schmeddinghoff bibbert und schnieft. Die Darsteller diskutieren, wo ihre Grenzen verlaufen. Ein Kameramann fragt Dirty Tina, ob sie es wirklich schlimm finde, Schlampe oder Nutte genannt zu werden – sei doch nur geschauspielert. "Nee, das ist unter meinem Niveau", antwortet sie. "Das gehört sich einfach nicht."
Was sich nicht gehört – davon hat Martina Schmeddinghoff eine klare Vorstellung. Und sie sagt, dass sie sich als Pornodarstellerin daran halten könne, anders als als Vermögensberaterin. Damals habe sie Dinge getan, die sich nicht gehörten. Kaltkontakten zum Beispiel. Um neue Kunden zu gewinnen, nahm sie ein Telefonbuch, rief wahllos Menschen an und gaukelte ihnen vor, dass sie von deren Freunden empfohlen worden sei. Nur selten gelingt es, solch einen kalten Kontakt für ein Geschäft zu erwärmen. "Das ist wirklich Anbiedern, das ist Türklinkenputzen – ich habe das als ganz schrecklich empfunden", sagt sie.
Alles Lüge - in der Finanzbranche
Heute müsse sie sich nicht mehr erniedrigen, so sieht sie das. Sex vor der Kamera sei ehrlicher als das Drücken von fondsgebundenen Rentenversicherungen. "Bei mir ist nichts gespielt" , behauptet sie, "das, was ich dem User bereitstelle, das ist echt, authentisch."
In der Finanzbranche hätte sie hingegen lügen müssen. Denn als Vermögensberaterin bekam sie für jedes Finanzprodukt, das sie verkaufte, eine Provision. Je knapper das Geld wurde, desto eher sei sie bereit gewesen, jeden Anstand fahren zu lassen. Sie habe dann Versicherungen abgeschlossen, die der Kunde nicht brauchte. "Ich musste ja Geld verdienen", sagt sie – und üblich sei es in der Branche ohnehin.
Martina Schmeddinghoff zieht immer wieder Vergleiche zwischen der Finanz- und der Erotikwelt. In einer Autobiografie will sie über ihre beiden Leben schreiben. Welches sie für das respektablere hält, zeigt der angedachte Titel: "Endlich seriös".
Doch der Stolz erzählt nicht die ganze Geschichte, da gibt es auch das Vorurteil. Der inzwischen 18-jährige Sohn weiß, was die Mutter macht. Die früheren Kollegen aus der Bank aber haben den Kontakt zu ihr abgebrochen. Und der Schwager schwärzte Martina Schmeddinghoff und ihren Mann bei der Vermieterin an, als er herausbekam, dass sie Sexfilme drehen. Die untersagte daraufhin in der Wohnung jede pornografische Arbeit.
In der Toilette zieht der Hüne das Kondom ab und sagt: "Und jetzt spritz ich dir schön in den Mund." Er zögert. "Nee, warte mal, Cut, was haben wir denn jetzt gesagt?" Alle lachen. "Wir hatten eigentlich gesagt, du spritzt in das Kondom", sagt Dirty Tina und gibt die Regieanweisung: "Du tust jetzt einfach so, als wenn du weiterfickst, und sagst dann, dass du kommst."
Seriös heißt eben noch lange nicht: ehrlich.
