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Altpapier Wie Amazon den Papiermüll vermüllt

Die Altpapierquote der verarbeitenden Papierindustrie in Deutschland ist mittlerweile auf 74 Prozent gestiegen. Angepeilt werden bis 2022 90 Prozent.
Die Altpapierquote der verarbeitenden Papierindustrie in Deutschland ist mittlerweile auf 74 Prozent gestiegen. Angepeilt werden bis 2022 90 Prozent.
© Jonas Wresch/stern
Aus Altpapier lässt sich hervorragend neues herstellen. Doch der Recyclingtraum ist in Gefahr. Das liegt nicht am Papierbedarf, sondern an Onlinehändlern wie Amazon. Einblicke in eine der modernsten Papierfabriken Deutschlands.

Wer sein Altpapier stets zum Sammelcontainer bringt, darf sich Held nennen. Gut, ein kleiner Held vielleicht, aber immerhin, denn Altpapiersammler sind Umweltretter. Pro Stunde werden weltweit Bäume auf einer Fläche von rund 500 Fußballfeldern gefällt. Die Hälfte davon wird zu Papier verarbeitet.

Noch vor 40 Jahren hatten nicht nur Umweltschützer die Hoffnung, dass durch die Digitalisierung der Papierverbrauch stark sinkt. Das Gegenteil ist passiert. Es wird immer mehr Papier verbraucht, auch in Deutschland. In den 50ern lag der Pro-Kopf-Anteil hierzulande um die 30 Kilogramm, mittlerweile sind es rund 250. Wir sind die internationale Spitze des Papierverbrauchs.

Glücklicherweise aber auch Weltmeister im Altpapiersammeln. Die Altpapiereinsatzquote ist in Deutschland auf 75 Prozent gestiegen. Das ist ein absoluter Spitzenwert und sagt viel über das Umweltbewusstsein der Deutschen. Die Quote in Europa liegt bei etwa 40 Prozent. Ab 2022 soll die Quote hierzulande sogar 90 Prozent betragen. Dabei hilft es, dass China keine Papierabfälle mehr importiert.

Aus Alt mach Weiß

Mittlerweile kann die Recyclingtechnik aus dem Inhalt der blauen Tonnen blütenweißes Papier zaubern. So gesehen war Papier nie geduldiger als heute. Das weiß kaum jemand so gut wie Ulrich Feuersinger. Der 609-Jährige ist Geschäftsführer der Steinbeis GmbH in Glückstadt, einer der modernsten Papierfabriken Europas. Während in anderen Teilen der Welt ganze Wälder gerodet werden, um die Papierproduktion am Laufen zu halten, hat Steinbeis die Produktion bereits Mitte der 70er von Primärfasern aus Holz auf 100 Prozent Altpapier umgestellt. Heute fahren im Zehnminutentakt 40-Tonner mit Altpapier auf den Hof der Anlage und bringen Rohstoff-Nachschub. Das Wort Müll hört man hier nicht gern. Altpapier ist ein wertvoller Rohstoff mit vielen Leben.

Geheizt wird mit Druckerfarbe

Dass es überhaupt noch große Waldflächen auf der Welt gibt, ist vielleicht Justus Claproth zu verdanken. Der Jurist gilt als der Erfinder des Recyclingpapiers. In einer Schrift mit dem Titel "Eine Erfindung aus gedrucktem Papier wiederum neues Papier zu machen" beschrieb er seine Versuche, Papier wieder in Fasern zu zerlegen und die Druckerschwärze zu entfernen. Das war im Jahr 1774. Sein sogenanntes De-Inking-Verfahren brauchte allerdings rund 175 Jahre, bis es sich industriell durchsetzen konnte.

Claproths Idee wird heute von Maschinen rasend schnell in die Tat umgesetzt. Wer morgens in Schleswig-Holstein oder Hamburg seine Zeitung in die Blaue Tonne wirft - und wenn diese noch am selben Morgen abgeholt wird -, kann am Abend die Fasern seiner Morgenlektüre schon wieder in der Hand halten. Und das nicht nur in der Theorie. Innerhalb von Minuten trennt die Anlage Papier von Pappe, entfernt Büroklammern, schält Aktenordner von Heftern, sortiert Helles, Nasses, Dunkles auf ratternden Verbindungsbahnen.

Sie alle münden in einer großen Halle. Dort wird ohne Zugabe von Chemikalien oder Weißmachern aus dem Papier eine graue Brühe gekocht, die durch Zugabe von Wasser und Lauge immer heller wird. Das leicht feuchte Papierflies wird in der Papierfabrik getrocknet, geglättet und Minuten später auf Rollen gespult. So geht es in Druckereien oder wird gleich vor Ort zu Büropapier weiterverarbeitet. Die Lastwagen von "Staples" warten schon an der Rampe.

Die hochbrennbare Druckerfarbe wird mittlerweile so gekonnt aus dem Papier gewaschen, dass das Unternehmen mit seinem Produktions-Restmüll ein eigenes Kraftwerk betreibt und damit eben jene Hitze erzeugt, die zum Trocknen des Papiers benötigt wird. Ein ziemlich perfekter Kreislauf. Alles hier ist ökologisch gedacht. Sogar das Wasser, das dringend zur Reinigung des Mülls gebraucht wird, wird in einem eigenen Kreislauf immer wieder aufbereitet.

Der Karton verdrängt das Papier

Güte und Weißgrad des Recyclingpapiers sind so hoch, dass man auf den ersten Blick kaum einen Unterschied zu "frischem" Papier erkennt. Ökologisch trennen die beiden jedoch Welten: Bei der Produktion von Papier aus Altpapier werden im Vergleich zur Produktion mit Frischfasern bis zu 83 Prozent Wasser und 72 Prozent weniger Energie verbraucht. Der CO2-Ausstoß wird um 52 Prozent reduziert. Und nicht ein Baum wird dafür gefällt.

Dennoch blickt Feuersinger mit Sorge in die Zukunft: "Die Digitalisierung verändert unser Geschäft. Wir passen unsere Businessstrategie entsprechend an." Zum einen lesen die Leute immer mehr im Netz und weniger auf Papier, zum anderen bestellen sie mehr bei Amazon und anderen Online-Händlern. Folge: Die Menge an hochwertigem Papier geht zurück, die des minderwertigen Kartons steigt. Das gemischte Altpapier besteht zu etwa 40 Prozent aus Kartonagen und Verpackungen. Langfristig dürfte sich das Verhältnis noch weiter angleichen. Doch aus braunem Karton wird niemals weißes Papier. Sondern nur wieder Verpackung.

Der Papiermüll vermüllt sozusagen. Und muss wieder sortiert und zu anderen Fabriken gefahren werden. Mit einem so sprunghaften Anstieg hatte sogar die Recyclingindustrie nicht gerechnet. Einige Unternehmen schwenken wegen der zunehmenden Bedeutung des Onlinehandels bereits auf die Kartonproduktion um. Steinbeis sieht jedoch Chancen, sich langfristig in seinem Markt zu behaupten. "Wir fühlen uns manchmal wie das kleine gallische Dorf", sinniert Feuersinger.

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