stern: Herr Clement, die deutsche Wirtschaft steht am Rande der Rezession. Auch 2004 wird es kaum besser werden. Wie lange wollen Sie noch an Ihren optimistischen Wachstumsprognosen festhalten?
Wolfgang Clement: Sie wissen, dass ich die bei uns üblich gewordene Schwarzmalerei nicht mag. Diese fatale Neigung zur allgemeinen Migräne, wie der Bundespräsident sagen würde, ist zu einer realen Wachstumsbremse geworden. Dabei sind einige Entwicklungen in der Weltwirtschaft gar nicht schlecht und selbst hierzulande wachsen zaghaft einige Konjunkturpflänzchen. Die Signale in Deutschland sind auf Modernisierung gestellt. Das sind die Gründe, weshalb ich mich weigere, in den allgemeinen Chor der Wehleidigkeit einzustimmen.
Bisher erwarten Sie in diesem Jahr 0,75 und im nächsten Jahr zwei Prozent Wachstum. Müssen Sie nicht schon zur Kabinettsklausur Ende des Monats mit einer realistischeren Schätzung aufwarten?
Wir werden, wie bisher, von fachlich begründeten Einschätzungen ausgehen, wobei wir uns mehr denn je der Begrenztheit der Prognostik bewusst sind.
Ihr Kabinettskollege Hans Eichel sieht die Lage offenbar inzwischen so dramatisch, dass er die Wachstumskrise mit zusätzlichen Steuersenkungen bekämpfen will.
Es gilt nun, nachdem wir die Agenda 2010 auf den Weg gebracht haben, zwei Aufgaben zu lösen. Wir müssen erstens den Haushalt konsolidieren, das heißt Subventionen, soweit sie ihren Sinn verloren haben, zurückschneiden und die investiven Ausgabenanteile zu Lasten der konsumtiven stärken. Und zweitens der Konjunktur möglichst mehr Wind unter die Flügel bringen. Dabei hat der Finanzminister meine volle Unterstützung.
Wie genau wollen Sie die Konjunktur in Schwung bringen?
Indem wir alles uns Mögliche tun, um öffentliche und private Investitionen zu fördern. Deswegen senken wir die Steuern und weisen jede Steuererhöhungsdiskussion zurück. Deswegen tun wir alles, um die Lohnnebenkosten zu senken. Deswegen fördern wir mit unserer neuen Mittelstandsbank die Eigenkapitalbildung und die Kreditausstattung der kleinen und mittleren Unternehmen. Deswegen steuern wir im Haushalt um. Deswegen stärken wir die Finanzkraft der Gemeinden. Wir stellen also eine Menge aufs Spielfeld. Jetzt kommt es darauf an, dass die Spieler - Unternehmer und Verbraucher - den Ball auch aufnehmen.
Wäre das Vorziehen der Steuerreformstufe 2005 für Unternehmer und Konsumenten das Signal, wieder Vertrauen zu fassen?
Das ginge nur, wenn wir aus dem allgemeinen Wortgetümmel heraus tatsächlich zu einer großen gemeinsamen Anstrengung kämen. Konsolidierung, Subventionsabbau, Umbau der Sozialsysteme - daran muss die Opposition spätestens im Bundesrat mitwirken. Wenn man davon ausgehen könnte, wäre der Weg auch zu einem Vorziehen der Steuerreform frei. Das wäre natürlich gut für Bürger und Unternehmen und hervorragend für die Konjunktur.
Muss die Regierung ihren Sparkurs für einige Jahre unterbrechen, um die Krise nicht noch zu verschärfen?
Nein, sie muss und sie wird bei ihrem Kurs der Konsolidierung mit Augenmaß und der nachdrücklichen Modernisierung bleiben.
Wollen Sie den europäischen Stabilitätspakt flexibler auslegen?
Wir halten uns an den Pakt, der Stabilität und Wachstum in Europa bewirken soll. Das ist auch unser Ziel für Deutschland. Nur mit mehr Wachstum sind auch die Arbeitsmarktprobleme zu lösen.
Im Klartext: Muss die Drei-Prozent-Marke 2004 erreicht werden?
Wir müssen alles tun, um dieses Kriterium zu erreichen. Wir wissen aber, dass wir dazu mehr Wachstum brauchen.
Wirtschaftsforscher sagen, dass die Agenda 2010 nur langfristig die Wachstumschancen verbessert.
Die strukturellen Reformen des Arbeitsmarktes wirken natürlich nicht von heute auf morgen, sondern brauchen etwas Zeit. Umso wichtiger ist es, sie so rasch wie möglich umzusetzen.
Schließen Sie aus, dass die Arbeitslosenzahl im Winter fünf Millionen erreicht?
Nein, aber ich erwarte, dass wir unter dieser Grenze bleiben.
Was würde ein Überschreiten der Fünf-Millionen-Marke politisch bewirken?
Sie würde die Pessimisten bestätigen. Auch deshalb tue ich alles, um das zu verhindern.
Wie stark können Hartz-Reform und die Agenda 2010 die Arbeitslosigkeit senken?
Sie werden die Wirtschafts- und Arbeitswelt in Deutschland verändern und so auch zu einem Mentalitätswechsel, zu einer Stärkung von Eigenverantwortung in unserem Land beitragen.
Noch mal: Was wird konkret am Arbeitsmarkt bewirkt?
Wir werden die Arbeitslosigkeit deutlich verringern. Ich bin überzeugt, dass Peter Hartz Recht hat ...
... er will die Arbeitslosenzahl in drei Jahren um zwei Millionen verringern ...
... nicht in den Zeitvorstellungen, aber in den Größenordnungen. Wir werden die Arbeitslosigkeit drastisch senken können.
Schon 2004?
Nein. Wir werden vier bis fünf Jahre brauchen, bis wir den Arbeitsmarkt wieder in Ordnung haben.
Seit der Regierungserklärung des Kanzlers zur Agenda 2010 sind mehr als drei Monate vergangen. Umgesetzt ist bisher so gut wie nichts. Manches wird wahrscheinlich noch nicht einmal zum Jahreswechsel im Gesetzblatt stehen.
Das ist falsch. Ein Teil ist schon in Kraft, etwa die neuen Beschäftigungsmöglichkeiten: Mini- und Midi-Jobs, Leih- und Zeitarbeit, Small-Business-Act und Ich-AG. Ab 1. Juli werden die neuen Regeln für die Mobilität und Zumutbarkeit von Jobs wirksam. Das neue Handwerksrecht geht soeben ins Gesetzgebungsverfahren. Kündigungsschutz und Arbeitslosengeld werden noch im Juni ins Kabinett gehen, der Umbau der Bundesanstalt für Arbeit und die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe im August. All dies und noch einiges mehr wird spätestens zum 1. Januar 2004 Gesetzeskraft haben.
Moment mal. Vorher müssen Sie noch durch den Bundesrat, wo CDU und CSU die Mehrheit haben.
Ich glaube und ich hoffe nicht, dass die Union sich quer stellen wird. Manches, wie die Reform des Kündigungsschutzes, ist übrigens nicht zustimmungspflichtig. Wie das Leben so ist, werden wir bei anderen Themen Kompromisse eingehen müssen. Ich vermute aber, dass sich die Union bewegen wird. Eine Verweigerungshaltung würde ihr die deutsche Öffentlichkeit jedenfalls nicht durchgehen lassen.
Sie erwarten nicht, dass die Union nach dem Motto "Alles oder nichts" nur über ein Gesamtpaket verhandelt?
Die Union hat gar kein Gesamtpaket. Sie hat ja größte Mühe, überhaupt zu sich zu finden. Ich will aber gar nicht darüber polemisieren, die Union polemisiert schon genug. Im Grunde ist das Feld der Reformen abgesteckt, und die Union hat darüber hinaus nichts Überzeugendes anzubieten. Wenn wir die Differenzen nicht überwinden könnten, wäre es allerdings schlecht um uns bestellt.
Deutschland braucht nicht nur mühsamen Konsens, sondern völlig neues Denken.
Ja, das ist richtig. Auch der Kanzler hat ja von der Notwendigkeit einer umfassenden Modernisierung, von einem Mentalitätswandel gesprochen. Das gilt für viele Bereiche. Wer sich beispielsweise bei uns das Verhältnis von Arbeitszeit und Freizeit anschaut und einen internationalen Vergleich, ein Benchmark, riskiert, der dürfte auch seine Zweifel bekommen. Wir sind, was Urlaubszeit, Feiertage und Arbeitszeit angeht, zweifelsohne an der Grenze angelangt.
In Ostdeutschland streikt die IG Metall gerade für die 35-Stunden-Woche.
Das ist ein für mich nicht mehr nachvollziehbarer Konflikt. Wir müssen für den Standort Ostdeutschland werben - und wir brauchen dazu Standortvorteile -, aber dem dient ein Arbeitskampf sicher nicht. Das ist ein Konflikt zur falschen Zeit am völlig falschen Ort.
Müssen sich auch die Westdeutschen wieder von der 35-Stunden-Woche verabschieden?
Ich will jetzt nicht zuspitzen, aber deutlich machen: Wir sind meines Erachtens am Anschlag angekommen. Natürlich brauchen wir künftig noch mehr differenzierte Antworten auf unterschiedliche Lebensumstände und Arbeitsbelastungen. Aber aufs Ganze gesehen gilt: Produktion kommt vor Distribution, vor Verteilung.
Wäre es nicht ein schönes Symbol, am Tag der deutschen Einheit zu arbeiten statt zu feiern?
Nein, dafür bin ich nicht. Aber wer unseren Feiertagskalender mit dem anderer Staaten vergleicht, der kann auch ins Grübeln kommen. Im nächsten Jahr werden wir übrigens einen bemerkenswerten Effekt haben: Weil 2004 eine Reihe von Feiertagen ins Wochenende fällt, rechnen die Prognostiker mit einem Wachstumseffekt von bis zu 0,5 Prozent. Wenn das kein Grund zum Feiern - und zum Nachdenken - ist.
Der Kanzler hat gesagt, die Agenda 2010 sei der Beginn eines längeren Reformprozesses. Was sind die nächsten Schritte?
Die weiteren Schritte ergeben sich aus der Agenda und aus den Aufgaben, den Haushalt zu konsolidieren und die konjunkturelle Entwicklung zu stärken.
Wäre es nicht am vernünftigsten, in einem der Sozialsysteme ganz aus der lohnabhängigen Finanzierung auszusteigen?
Wir sollten Acht geben, dass wir jetzt nicht über die eigenen Beine stolpern. Heute sind wir gefordert, die sozialen Sicherungssysteme so umzugestalten, dass sie zum einen zukunftsfähig bleiben, also den demografischen Umwälzungen gerecht werden, und zum anderen, sehr rasch zu einer Absenkung der Lohnnebenkosten kommen. Das schließt noch weiter reichende Überlegungen, etwa für das Gesundheitssystem, nicht aus, aber wir müssen heute tun, was aktuell möglich und unabweisbar nötig ist.
Was halten Sie von dem Vorschlag, auch Beamte und Selbstständige zu verpflichten, in die Sozialkassen einzuzahlen?
Das ginge so einfach nicht. Es würde übrigens die Probleme der Rentenkasse auch nicht langfristig lösen. Aber natürlich muss der öffentliche Dienst seinen Beitrag leisten, und er tut das ja in Ansätzen auch schon. Wenn es um die Selbstständigen geht, ist mein dringender Rat: Lasst die Unternehmer, erst recht die Existenzgründer, erst einmal Luft holen. Die brauchen nicht weniger, sondern mehr Spielraum, um forschen und entwickeln, investieren und Arbeitsplätze schaffen zu können.
Um die Reformbremsen in Deutschland zu lockern, müssten Bundesrat und Bundestag stärker getrennt werden. Für so eine Grundgesetzänderung wäre eine Zweidrittelmehrheit nötig. Wann ist der Zeitpunkt für eine große Koalition gekommen?
Das ist kein Zwang zur großen Koalition, sondern ein Zwang zu der Einsicht, dass in Deutschland grundlegende Veränderungen notwendig sind, und zwar an allen Ecken und Kanten. So müssen wir die Verantwortlichkeiten des Bundes, der Länder und der Kommunen wieder entzerren und entflechten. Aber dazu braucht man keine große Koalition, darin waren der Kollege Stoiber und ich uns schon einig, als wir noch beide Ministerpräsident waren.
Dann machen Sie doch zusammen ein Kabinett auf!
Dazu brauchen wir kein eigenes Kabinett, sondern vernünftige Gespräche zwischen Bund und Ländern. Und natürlich beißt keine Maus den Faden ab, dass auch die Länderneugliederung längst fällig ist. Das wissen wir alle, aber da sind wir auf die Einsicht der Bürgerinnen und Bürger beispielsweise in Berlin und Brandenburg, in Schleswig-Holstein und Hamburg oder im Saarland und in Rheinland-Pfalz und anderwärts angewiesen. Das haben wir allesamt bisher nicht zuwege gebracht.
Wann wäre für Sie der Zeitpunkt für eine große Koalition gekommen? Wie groß muss die Not sein?
Es gibt heute keinen Bedarf für eine große Koalition...
Nie? Unter keinen Umständen?
... wohl aber für eine große Kooperation von Bundesregierung und Opposition in herausragend wichtigen Sachfragen.
Können Sie sich vorstellen, eine große Koalition als Kanzler zu führen?
Nein.
Fürchten Sie sich davor?
Ich fürchte mich nur noch vor Wenigem. Aber, ich bin nicht nach Berlin gekommen, um Bundeskanzler zu werden, sondern um meinen Job zu machen.
Wann hört denn der Kanzler auf und übergibt an Sie?
Ich hoffe, er hört nicht auf, und ich auch nicht, mit ihm zusammenzuarbeiten.
Hat Schröder Sie nicht geholt, um im Falle eines Falles einen Nachfolger zu haben?
Nein, partout nicht, sondern er hat mich hierher geholt, um das Ressort Wirtschaft und Arbeit zu führen. Das tue ich, und zwar gerne.
Gerhard Schröder hat Ihnen nie eröffnet, dass er Sie als seinen Nachfolger sieht?
Nein. Wir haben allenfalls, wenn Sie darüber berichtet haben, unsere Scherze gemacht.
Welche?
Wunderbare. Vor allem den, dass ich als der Ältere in seine Fußstapfen treten sollte.