Als Kind fuhr ich mit Eltern und Schwester häufig zu meinen Großeltern. Stets sprach mein Vater mit uns kurz nach der Abfahrt ein Reisegebet. Wir riefen die Heilige Mutter Gottes, den Heiligen Raphael und den Heiligen Christopherus an und baten um Beistand.
Ich bin mir relativ sicher, dass dies nicht geschah, weil wir in einem Renault unterwegs waren. Es war ein orangefarbener R4, und für uns Kinder war dieses Auto Mitte der 1970er Jahre ein geliebtes Familienmitglied, das uns Oma und Opa näherbrachte, genau 133 Kilometer von Münster-Gremmendorf in ein idyllisches, menschenleeres Tal nahe Dabringhausen im Bergischen Land. Der Wagen besaß außer nacktem Blech nur ein Radio. Statt Klimaanlage gab es Schiebefenster, statt Seitenairbags ein Stück plastikbezogenes Styropor, das vor den Bauch geschnallt wohl als eine Art Kindersitz dienen sollte. Während mein Vater mit der Revolverschaltung in den Gängen rührte und so den Wagen auf etwa 110 km/h brachte, stand das Blaupunkt-Radio wegen Motorgedröhne auf verlorenem Posten. Aus diesem Grund wurde auf den R4-Fahrten auch sehr laut geredet – meist besonders laut auf der Rückfahrt von den Großeltern, wenn sich das vollgepackte Wägelchen tapfer mit seinen 34 PS aus dem Tal den Berg hinaufquälte und meine Eltern über die Verwandtschaft stritten. Irgendwann wurde unser R4 durch einen Citröen GS ersetzt, der ständig kaputt war. Und mir wurde Renault für Jahrzehnte egal. Vollkommen egal. Ich kenne bis heute niemanden, der sich je nach einem, sagen wir, Laguna oder Megane verzehrt hätte. Ich kenne auch niemanden, der mit ähnlich zärtlichen Gefühlen an seinem, sagen wir, Clio hing, wie wir an unserem R4. Genial an Renault fand ich nur den Werbespot, wo ein Baguette einen Crashtest gewinnt. Die Autos waren für mich: sterbenslangweilig.
Der Talismann - mein Hingucker
Bis zu dem Tag, als ich den Talisman entdeckte. Bullig, ein bisschen aggressiv erschien er in meinem Rückspiegel. Zum ersten Mal drehte ich mich wieder nach einem Renault um. Ein Sportwagen? Nein, ein äußerst eleganter Familienkombi mit fünf Jahren Garantie. Renault Talisman Grandtour. Mit dem reise ich nun erneut in die Kindheit.
Noch einmal 133 Kilometer von Münster ins Bergische. Diesmal mit 160 PS, Doppelkupplungsgetriebe, Spurhalteassistent, Bremsassistent, Headup-Display, belüfteten Massagesitzen, Allradlenkung und Bose Surround-Soundsystem. Unter anderem.
Über ein "Multi-sense" genanntes System kann ich Lenkung, Gangwechsel, Dämpfung und Ansprechverhalten des Motors ebenso einstellen, wie die Farbe und Intensität der Innenraumbeleuchtung, wie Klimatisierung und Motorensound.
Mehr Auto, aber auch mehr Geld als beim R4
Schöne Spielereien. Noch schöner freilich wäre es, intuitiv den Tempomaten zu finden. Gelingt mir nicht. Auch die Menüführung des riesigen Touchscreens ist eher gewöhnungsbedürftig. Dennoch reist es sich auf Landstraße und Autobahn ausgesprochen angenehm. Selbst bei Autobahntempo 180 signalisiert der Diesel seine Anwesenheit nur sehr dezent. Verbrauch? Um die sieben Liter. Die automatische Verkehrszeichenerkennung mahnt zum Abbremsen, der Abstandswarner bedeutet mir, nicht so dicht aufzufahren. Im Stadtverkehr fühle ich mich mit dem Talisman weitaus weniger wohl. Zwar lässt sich der 4,86 Meter lange Kombi dank Allradlenkung gut dirigieren, doch die Rundumsicht ist extrem schlecht. Rückwärts lässt sich der Talisman praktisch nur mithilfe der Rückfahrkamera und der vielen akustischen Warnsignale bewegen, die mitunter zu einer Sinfonie von Fiep- und Piepgeräuschen werden. Der Schulterblick endet an der B-Säule, der Toter-Winkel-Warner gehört deshalb zu den wichtigeren Sonder-Ausstattungen. Ich erreiche das liebliche Tal, wo einst die Großeltern lebten, nach nicht mal 80 Minuten. Wieso kam mir die Reise früher so endlos vor? Die Luft riecht noch immer nach Wald und Wiese und Abenteuer. Auf dem Rückweg, mit 160 PS den Berg hoch, spielt die Soundanlage leise Klaviermusik von Bach.
Wehmütige Gedanken an den R4. Wie wenig Auto das war. Der Talisman ist mehr als doppelt so schwer, hat mehr als vier Mal so viel PS. Beiläufig fällt mein Blick auf den Preis des Testwagens: Fast 45000 Euro. Für einen Familienkombi, der in Deutschland wohl immer ein Nischendasein fristen wird. Heilige Maria, Mutter Gottes, da hilft nur noch beten.