Bei den Ausschreitungen in Marseille ist ein junger Mann in der Nacht von Samstag auf Sonntag gestorben. Der 27-Jährige sei in der Nacht zum Sonntag vermutlich infolge eines "heftigen Schlags im Brustbereich" verstorben. Wahrscheinlich sei der Stoß durch ein "Projektil vom Typ Gummigeschoss" verursacht worden, so die Staatsanwaltschaft der südfranzösischen Hafenstadt Marseille. Der Schlag des Geschosses habe dann vermutlich zum Herzstillstand geführt. Unklar ist, ob der 27-Jährige überhaupt an Ausschreitungen teilgenommen hat. Der junge Mann sei bloß auf einem Scooter unterwegs gewesen, sagte eine den Ermittlungen nahestehende Quelle "franceinfo".
Umstrittene Distanzwaffe
In Frankreich ist der Hartgummi-Werfer LBD 40 seit langem umstritten. Das Gerät erinnert äußerlich nicht von ungefähr an die tragbaren Granatwerfer des Militärs. LBD 40 verschießt natürlich kein Explosivgeschoss, sondern unter anderem ein Hartgummigeschoss. Das Gerät ist der leistungsfähigere Nachfolger des Flash-Balls, auch wenn die alte Bezeichnung weiter verwendet wird. Für die Polizeitaktik hat diese Waffe mehrere Vorzüge. Der Werfer ist eine Distanzwaffe, mit ihm können Polizisten Gewalttäter gezielt ausschalten, ohne sich ihnen auf Schlagdistanz zu nähern. Aus Sicht der Staatsmacht wird hier quasi Waffengleichheit geschaffen. Die Beamten werden häufig mit Steinen, Molotowcocktails oder gar Zwillen beschossen, können sich aber aus der Distanz selbst nicht wehren, wenn ihnen nur tödliche Schusswaffen zur Verfügung stehen.
Hohe Energie des LBD-40-Geschosses
Das Geschoss selbst besitzt eine unmittelbar mannstoppende Wirkung. Wird es auf korrekte Weise eingesetzt, hat der Aufprall die Wirkung eines 8,4 Kilogramm schweres Gewichts, das aus einem Meter zu Boden fällt – allerdings mit einer Aufprallfläche von nur 40 Millimeter Durchmesser. Trifft der Schuss eine Person im Nahbereich unter zehn Metern, ist die Aufprallenergie ungleich höher.
Das ist auch das erste Problem des Werfers. Um einen Mann in Schutzkleidung oder auch nur mit dicker gepolsterter Jacke von den Füßen zu reißen und zumindest einen Moment außer Gefecht zu setzen, ist eine starke Energie notwendig. Trifft sie auf eine ungeschützte Körperstelle – insbesondere Stirn, Schläfen oder Augenpartie – sind schwere Verletzungen die Folge.
Im Einsatz führt das zu dieser Paradoxie: Gewalttäter, die sich für die Randale vorbereitet haben, sind mit Schutzbrillen, Westen, die die Stoßenergie verteilen, und Helmen gut gegen LBD 40 geschützt. Ein Treffer hat die Wirkung eines tüchtigen Faustschlages. Doch bei umherstehenden Demonstranten mit ungeschütztem Kopf sieht das anders aus. Während der Gelbwesten-Proteste kam es zu mehreren schweren Verletzungen, auch bei ganz Unbeteiligten. Immer wieder kam der Verdacht auf, dass die Polizei entgegen der Einsatzregeln gezielt auf den Kopf geschossen hätten.
Fortgeschrittene Technik von LBD 40
LBD 40 ist ein Qualitätsprodukt aus der Schweiz und nicht etwa eine Art von Ratsche, die Gummibälle verschießt. Er besitzt eine Einsatzreichweite von 25 bis 50 Metern. Auf nähere Distanz darf er wegen der höheren Energie der Geschosse nicht verwendet werden.
Fotos von schweren Verletzungen lassen allerdings vermuten, dass der Werfer auch auf kürzere Distanz eingesetzt wird. Die Geschosse besitzen einen Durchmesser von 40 Millimetern, die Länge beträgt 46 Millimeter - es sind also keine Kugeln. Der gezogene Lauf versetzt die Geschosse in Rotation um die Längsachse. Damit erreicht LBD 40 eine Streuung von nur 14 Zentimetern auf 25 Metern Distanz – angesichts der langsamen Gummi-Projektile ist das ein sehr guter Wert. Wer auf die Brust zielt, sollte daher nicht aus Versehen den Kopf treffen.
Klare Vorschriften – unklare Praxis in Frankreich
Und das ist das zweite Problem des Werfers: Wenn er vorschriftsmäßig eingesetzt wird, sollte es zu keinen schweren Verletzungen kommen. Um Schüsse auf den Kopf zu vermeiden, darf der Werfer nur sehr kontrolliert benutzt werden. Es dürfen keine anderen Personen in der Nähe des Ziels stehen und die Schussentfernung muss mindestens 25 Meter betragen. Ob das im Chaos der aktuellen Demonstrationen immer so gemacht wird, kann bezweifelt werden. Nicht nur Fotos auf Twitter, auch die Aufnahmen renommierter Agenturen zeigen Beamte, die auf nahe Distanz den Kopf von Personen anvisieren.
Schon lange vor der Macron-Regierung und den Protesten der Gelbwesten gab es starke Kritik an dieser Waffe, die immer wieder zu schwersten Verletzungen führt. Auch wenn Regierung und Aktivisten unterschiedliche Zahlen präsentieren, ist unumstritten, dass viele Demonstranten bei den Gelbwesten-Demonstrationen von diesen Waffen verletzt wurden. Noch ist der Fall in Marseille ungeklärt. Doch sollte der junge Mann tatsächlich auf einem Scooter unterwegs gewesen sein, dürfte von ihm keine unmittelbare Gefahr ausgegangen sein.