Zu Beginn der Sommeroffensive rückten die ukrainischen Streitkräfte mit gepanzerten Kampfgruppen vor und blieben häufig in Minenfeldern stecken. Und dann wurden die liegen gebliebenen Fahrzeuge zusammengeschossen. Diese Verluste waren auf Dauer nicht tragbar, also änderte Kiew die Taktik.
Kleine Infanteriegruppen
Anstatt mechanisierte Kräfte ins Feld zu schicken, werden nun Sturmgruppen der Infanterie eingesetzt. Und die nutzen eine Besonderheit der Landschaft aus – die Hecken. Auch in Deutschland kennt man Baumreihen, die Felder begrenzen. In der Sowjetzeit waren die Felder in der Ukraine weitaus größer als in Deutschland. Hier nutzte man die Vorteile der Mechanisierung der Landwirtschaft voll aus, hinzu kam der Hang zu Superlativen. Doch bei Trockenheit führten die großen Flächen auch zu großen Bodenverlusten durch Erosion – also legte man Baumschutzstreifen an. Das sind schmale Wäldchen an den Rändern der Felder. Hierauf konzentrieren sich die Kämpfe. Die Baumreihen beherrschen den offenen Acker dazwischen, und ihr grünes Dach schützt zumindest teilweise vor der Entdeckung durch Drohnen. Entlang dieser Baumreihen gehen die ukrainischen Truppen vor und versuchen dort, die Russen aus ihren Gräben zu werfen. Den kleineren Gruppen gelingt es immer wieder, die Russen zu überraschen. Dazu sind die Baumstreifen nicht so vermint wie die Felder.
Springen von Hecke zu Hecke
Ist eine Baumreihe erobert, muss sich der Gegner auf die nächste zurückziehen. Aufgrund der Größe der Felder macht das mehrere Hundert Meter Territorium aus. Die Ukraine verliert weniger Schützen- und Kampfpanzer, weil sie sie nicht an den Feind bringen. Dafür gelingt es den Ukrainern, immer wieder russische Panzer auszuschalten. Beim schweren Gerät verlagern sich die Kämpfe auf die Artillerie. Beide Seiten versuchen, die Geschütze des Gegners mit Drohnen aufzuspüren und auszuschalten. Welche Rolle der Artillerie zukommt, ist schwer zu sagen. Der Oberkommandierende der ukrainischen Streitkräfte klagte, dass die russischen Truppen zehnmal mehr Granaten abschießen würden als seine Männer zur Verfügung hätten. Gleichzeitig verkündet der britische Geheimdienst, dass die Russen unter einem Mangel an Artilleriegeschossen leiden würden.
Gepanzerte Verbände sind verwundbar
Wie effektiv ist die neue Taktik? Mit dem Einsatz kleiner, überraschend operierender Infanteriegruppen vermeidet Kiew unnötige Verluste, wie sie die gepanzerten Gruppen im offenen Gelände erlitten haben. Doch damit verschwindet die Hoffnung auf einen Durchbruch und rasche Geländegewinne. Mehr als ein Springen von Hecke zu Hecke kann kaum erreicht werden.
Dazu zeigt sich, wie schwer es mechanisierte Verbände im Ukrainekrieg haben. Sie werden häufig schon in der Annäherung an die Frontlinie entdeckt und dann von Artillerie und Drohnen angegriffen. Selbst in der Funktion als Infanterieunterstützungspanzer bzw. Schützenpanzer können sie häufig nicht benutzt werden. Die Hauptlast des Kampfes tragen die Fußsoldaten unterstützt von Drohnen und von Artillerie.
Ein Wundermittel ist der Infanteriekampf nicht. Es ist anzunehmen, dass die Russen sich auf die neue Taktik einstellen. Etwa in dem sie die Waldstreifen verstärkt verminen und mit Sprengfallen versehen. Ihre Hubschrauber haben sich bereits adaptiert, auf Videos ist zu sehen, wie sie die Heckenstücke unter Feuer nehmen. Allerdings wird es kaum gelingen, die kleinen Gruppen weit vor den eigenen Stellungen anzugreifen, so wie es mit den auffälligen gepanzerten Kolonnen geschieht.
Bocage-Kämpfe 1944
Im historischen Vergleich erinnern die Kämpfe an die Normandie 1944. An die alliierten Landungszonen grenzt die Kulturlandschaft des Bocage an. Auch hier begrenzen Hecken die allerdings deutlich kleineren Felder. Angelegt wurden diese Flurgrenzen bereits vor 2000 Jahren. An den Grenzen wurden die Feldsteine gesammelt. Im Laufe der Zeit bildeten Pflanzen und Steine regelrechte Wälle, die wiederum bewachsen waren. In der Normandie-Schlacht boten diese Hecken den Deutschen Schutz vor der alliierten Luftwaffe. Die Wallhecken wirkten wie ein natürliches Grabensystem und verstärkten die Position der deutschen Verteidiger. Durch die starke Überlegenheit an Truppen und Material und ihre absolute Luftherrschaft konnten die Alliierten schließlich doch aus dem Normandie-Brückenkopf ausbrechen. Doch das dauerte. Die Landung erfolgte am 6. Juni 1944, der Ausbruch gelang erst Ende Juli 1944.