"Treibt sie bis nach Berlin", mit diesen Worten hat ein alter Mann die russischen Soldaten in Awdijiwka begrüßt. Er hat in den Trümmern der Stadt ausgehalten.
Bis nach Berlin wird Putin nicht kommen, doch nach dem Fall der monatelang umkämpfen Stadt wollen die Russen ihr Momentum nutzen, sie drücken an vielen Stellen entlang der ganzen Front auf die ukrainischen Stellungen. Noch halten die Ukrainer tapfer aus, die russischen Fortschritte sind begrenzt – wie immer in diesem Krieg. Doch wie lange halten die ukrainischen Stellungen noch?
Initiative liegt bei Russland
Seit Monaten hat Putin die Initiative an der Front übernommen. Die Ukraine verbucht Erfolge mit Drohnenangriffen auf Schiffe und Raffinerien, doch am Boden werden Kiews Truppen in die Defensive gedrängt. Nun kommt noch ein psychologischer Moment hinzu: Anders als vom Kiewer Oberkommando behauptet wurde Awdijiwka nicht planmäßig geräumt, es war eine chaotische Flucht. Es gibt Videos von den Leichen auf den Feldern, dazu kommen die Stimmen von Gefangenen, die sich nicht retten konnten.
Die stärkste Wirkung in der Ukraine hinterlassen die verzweifelten Anrufe der "300er" – das Sowjet-Kürzel für Verwundete – die von den eigenen Leuten zurückgelassen worden waren und tagelang ohne Versorgung und Wasser in einem Keller litten und nur hoffen konnten, dass die Russen irgendwann vorbeikommen und nicht zuerst eine Granate in den Keller werfen würden.
Die "New York Times" spricht von Hunderten, die bei dem chaotischen Rückzug zurückgelassen wurden. In Awdijiwka selbst gruppieren sich die russischen Kräfte neu. Vermutlich werden sie in den nächsten Wochen versuchen, die Ukrainer aus den Dörfern westlich der Stadt zu vertreiben. Zuvor werden sie die Trümmer der Stadt von Minen und Sprengfallen räumen.
Kämpfe an der ganzen Front
Weiter im Süden kam es schon zu schweren Kämpfen um Robotyne, einem der wenigen Orte, die Kiew im Sommer erobern konnte und noch hält. Die ukrainischen Verteidiger kämpfen verbissen. Doch die Russen rücken im Umland vor und sind zumindest an den Rändern des Ortes angekommen. Bei Bachmut greifen die Russen den Ort Ivanivske an. Südwestlich von Awdijiwka versuchen sie, das Städtchen Pervomaiske zu umschließen. In der Umgebung von Donetzk greifen sie Kostyantynivka und Nowomychajliwka an, hier gelang es ihnen, den kleinen Ort Pobjeda einzunehmen. Im Norden drücken sie auf die ganze Front zwischen Kupjansk und Lyman. Das berichten übereinstimmend ukranische Blogger, russische Accounts wie Rybar und das Institute for the Study of War.
Was bedeutet das? Der Kampf um Awdijiwka hat die russischen Reserven nicht erschöpft. Ihre Kräfte reichen derzeit aus, um an einem Dutzend Stellen offensiv zu werden. Wirklich aufgeben, kann Kiew keinen dieser Abschnitte. Putins Kalkül basiert darauf, dass Kiew irgendwann alle Reserven einsetzen muss, um die Front zu halten. Ein anderes Kalkül: Kiew gehen die Artilleriegranaten aus, der Mangel wird durch die vielen Kampfabschnitte noch spürbarer.
Der größte Lichtblick für die Ukraine ist derzeit die Meldung, dass es gelungen sei, mehrere russische Jets weit hinter der Front abzuschießen. Wie das geschehen konnte, ist unklar. Sollte die Meldung wahr sein, könnten diese Verluste Russland zwingen, den massiven Einsatz von Gleitbomben einzuschränken.
Russland wird stärker
Doch alles in allem ist die Lage bedrohlich. Denn Russland wird stärker, die Ukraine schwächer. Moskau behauptet, dass sich 2024 in weniger als zwei Monaten über 50.000 Freiwillige für den Kriegsdienst gemeldet hätten. Der Zustrom von etwa 60.000 Mann in zwei Monaten lässt sich in 10 neue Brigaden umrechnen. In den letzten 14 Monaten sollen es sogar 600.000 Mann gewesen sein. An der Front stehen sich jeweils 400.000 bis 500.000 Mann gegenüber.
Der russische Personalüberschuss führt aber dazu, dass die Russen ihre Truppen ablösen (rotieren) lassen können. Das können die Ukrainer nicht, entsprechend abgekämpft und erschöpft sind ihre Soldaten. Bei der Schlacht um Awdijiwka war nicht zu erkennen, dass den Russen trotz großer Verluste das Gerät ausgeht. Gingen 2022 Videos um die Welt, die Einberufene mit kaputten Waffen und unzureichender Ausrüstung zeigten, ist davon nichts mehr zu spüren. Russland steigert seine Rüstungsproduktion weiter. Im Frühjahr soll der jetzige Engpass bei den Läufen von Artilleriegeschützen durch eine Ausweitung der Fabrik in Motoviilikha behoben sein, füchtet die Analystin Patricia Marins.

Westen auf einen langen Krieg nicht eingestellt
Kiew bezahlt nun für eklatante Fehleinschätzungen des Westens. In der Frage der Sanktionen wurde die eigene Bedeutung in einer globalen Welt maßlos überschätzt. Und danach ließ man die Ukraine in einen Abnutzungskrieg gleiten, ohne die eigene Rüstungsproduktion für einen langanhaltenden Krieg hochzufahren. Gleichzeitig nahm man an, dass das "Entwicklungsland" Russland eher weniger als mehr Rüstungsgüter produzieren könne. Nun zeigen sich die Konsequenzen: Die Russen stocken Truppen und Material auf, und Kiew kann nicht mithalten.
Der Westen wird das Dilemma auch kaum lösen können. Im Prinzip ist die Industrie zwar stärker, doch die explodierenden Preise für Rüstungsgüter führen dazu, dass es immer weniger Feuerkraft für den Euro gibt. Die Preise für Artilleriegranaten sind von 2000 auf 6000 Dollar gestiegen, das heißt, statt drei Granaten gibt es nur noch eine. Die Waffen des Westens greifen nicht auf Produkte aus dem Regal zurück, sie sind aufwendig zu produzieren und sehr, sehr teuer. Ein Beispiel ist das Allradfahrzeug Caracal, es basiert auf der G-Klasse. Kostenpunkt satte 600.000 Euro pro Stück. Der reale Einsatzwert dürfte kaum höher sein, als der eines militarisierten Pick-Ups für ein Sechstel des Preises. Nicht allein wegen der USA, aber hauptsächlich wegen der USA fließt weniger Hilfe nach Kiew. Es fehlt nicht allein an Rüstungsgütern, es fehlt inzwischen schlicht an Geld. Ohne Euro oder Dollar aus dem Ausland kann Kiew Krieg und Verteidigung nicht finanzieren.
Auch in den nächsten zwei, drei Monaten wird Russland die Ukraine nicht besiegen können. Es ist aber wahrscheinlich, dass die ukrainischen Truppen weiter zurückgedrängt werden. Im Donbass in Richtung der letzten Verteidigungslinie. Entscheidend wird dann die Frage sein, ob die Bevölkerung und die Truppen einen Sinn darin erkennen, den Krieg weiterzuführen. Oder ob es Putin mit seinem Abnutzungskrieg gelingt, die Moral der Ukrainer zu erschöpfen.