Vom vermeintlichen Flop zum Hoffnungsträger: Die Apple Watch hat in nur vier Jahren den Uhrenmarkt umgekrempelt. Anfangs belächelt, mauserte sich das Gadget zum Dominator der Branche: Apple ist mittlerweile die Nummer eins der Uhrenhersteller. Konkrete Zahlen nennt das Unternehmen nicht, doch Schätzungen zufolge wurden im vergangenen Jahr 18 Millionen Apple Watches verkauft. Das wären mehr als alle Schweizer Uhrenhersteller zusammen.
Ab Freitag steht die Apple Watch Series 4 im Handel. Mit ihr betritt Apple ein Stück weit Neuland, denn dieses Modell ist nicht das typische Schneller/Besser/Schöner-Upgrade, das sonst jeden Herbst in den Regalen liegt.
Es ist ein Paradigmenwechsel.
Im Fokus der Series 4 stehen nicht mehr nur Fitness, Achtsamkeit und Bewegung, sondern tiefgreifende Gesundheits-Features. Apple will, so lautet der eigene Anspruch, mit der Uhr nicht weniger als Leben retten. Und damit völlig neue Zielgruppen erschließen.
Ich habe die neue Uhr bereits vor dem Verkaufsstart ausführlich getestet und verrate, warum die Apple Watch Series 4 eines der spannendsten Produkte seit Langem ist. Und warum ich mir nach dem Test einige grundlegende Fragen stelle.
Die wichtigsten Neuerungen der Apple Watch Series 4 im Überblick:
- größerer Bildschirm
- neue Farbe
- eingebauter EKG-Sensor
- Sturzerkennung
- schnellerer Prozessor
- weitere Gesundheits-Features
Mehr Bild auf weniger Fläche
Zunächst einmal zum Offensichtlichen. Neben der neuen, goldenen Farbe für die Edelstahl-Variante sticht sofort das größere Display ins Auge. Es misst jetzt 40 und 44 statt zuvor 38 und 42 Millimeter, außerdem reicht es bis in die Ecken. Der sichtbare Bereich wächst um mehr als 30 Prozent. Der Gewichtsunterschied bei der Aluminium-Version liegt bei plus vier Gramm. Am Handgelenk fühlt sich das neue 44mm-Modell deshalb kaum anders an als das 42er.
Wer über die Jahre einige Armbänder angesammelt hat, für den gibt es gute Nachrichten: Alle alten Bänder passen in die neue Uhr. Die Rückseite besteht jetzt aus Saphirglas und schwarzer Keramik, wodurch sich der Empfang für Telefonate und Datenübertragungen verbessert. Außerdem ist ein neuer Herzsensor verbaut, von dem ich im alltäglichen Training keinen Unterschied gespürt habe. Der hat allerdings neue Tricks parat, dazu später mehr. Der schnellere Prozessor lässt die eingebauten Apps flinker starten. Mit watchOS 5 gibt es (nicht nur für die Series 4) mit Yoga und Wandern neue Workouts.
Die Akkulaufzeit bleibt auf dem Niveau des Vorgängers und hängt von vielen Faktoren ab. Je nach Aktivität sind mit einer Ladung zwischen einem und zweieinhalb Tagen drin. Outdoor-Workouts mit aktiviertem GPS sollen sechs Stunden durchhalten, die Uhr macht beim Marathon also schon mal nicht schlapp.
Es ist komplikaziert
Das Zwischenfazit nach einer knappen Woche mit der Series 4: Ich möchte nicht mehr zum alten Modell zurück. Wie früher bei Smartphones habe ich mich schnell an das Mehr an Display gewöhnt. Dass das der Bildschirm ist, den Apple eigentlich immer wollte, erkennt man auch an den neuen Watchfaces: Die alten Zifferblätter waren meist dunkel und darauf ausgelegt, bloß nicht die schwarzen Ränder der Uhr zu sehr zu betonen. Die neuen Varianten dagegen sind hell, voller Farben und Animationen.
Am besten gefällt mir jedoch, dass man die Uhr jetzt mit Komplikationen vollstopfen kann, also Icons mit zusätzlichen Informationen. Das praktischste Feature einer Smartwatch ist schließlich, dass ich viele Informationen auf einen Blick sehe. Nicht nur die Uhrzeit, sondern auch noch das Datum, die aktuelle Temperatur, meine verbrauchten Kalorien und anstehende Termine - und zwar alles gleichzeitig.
Auf ein Watchface passen jetzt bis zu acht der kleinen Symbole, vorher lag die Obergrenze bei fünf. Somit gibt es jetzt auch noch Platz für den Musik-Button, die Workout-App und das neue Walkie-Talkie (ja, das gibt es wirklich). Nur dauerhaft die Uhrzeit anzeigen, das kann die neue Apple Watch kurioserweise immer noch nicht.
Ein Hauch Analoges
Aus der Kategorie "Warum war das nicht schon immer so" stammt die neue Krone. Nein, nicht wegen des roten Rings, der den clownesken roten Punkt der LTE-Version ersetzt und ein wenig an den Apple Park aus der Luft erinnert. Scrolle ich mit der Krone durch Listen und Menüs, spüre ich nun ein angenehmes Klicken. Obwohl ich weiß, dass es nur simuliert ist, fühlt es sich vollkommen mechanisch an. Wie ein Zahnrad, das einrastet.
Die Krone ist zugleich der Schlüssel-Baustein für die Transformation vom Fitness-Gadget zum Lebensretter. Denn in ihr stecken Elektroden, die im Zusammenspiel mit dem elektrischen Herzfrequenzsensor ein EKG (Elektrokardiogramm) schreiben können. Damit lässt sich die elektrische Aktivität des Herzmuskels überprüfen. Dazu legt man den Finger für 30 Sekunden auf die Krone, anschließend wertet eine App die Daten aus. Das war’s. Noch ist die Funktion nicht verfügbar, sie wird per Update nachgeliefert, allerdings zunächst nur in den USA.
Diese Apple Watch will Ihr Herz erobern
Bei dem EKG der Apple Watch handelt es sich um ein sogenanntes Ein-Kanal-EKG, das nicht so komplex ist wie ein reguläres EKG im Krankenhaus. Das ist aber auch nicht nötig, meinen Experten. Viel wichtiger sei die Aufzeichnungsqualität, um Herzrhythmusstörungen wie Vorhofflimmern erkennen zu können. Die Daten können auf Wunsch direkt an den behandelnden Arzt geschickt werden. Ob und wann die Funktion nach Deutschland kommt, ist noch offen. Die muss in jedem Land einzeln als medizinisches Gerät zugelassen werden.
Andere Gesundheitsfunktionen sind jedoch bereits verfügbar: Apples Uhren schlagen bereits seit einem Jahr bei (zu) hohen Herzfrequenzen Alarm. Mit dem neuen Betriebssystem watchOS 5 sind sie nun auch in der Lage, den Nutzer bei niedrigen Herzfrequenzen über einen längeren Zeitraum zu warnen, ebenso wenn ein unregelmäßiger Herzrhythmus erkannt wird. Wie zuverlässig das klappt, kann man nach einer Woche nicht seriös bewerten. Das werden Langzeittests zeigen.
Die Sache mit den Stürzen
Und dann ist da noch die neue Sturzerkennung. Dank genauerer Sensoren erkennt die Uhr nun, wenn der Träger hinfällt oder ausrutscht, verspricht Apple. Bleibt der Nutzer nach dem Sturz eine Minute lang unbeweglich liegen, ruft sie sogar selbstständig den Notarzt und übermittelt den Standort. Eigentlich ein praktisches Feature, schließlich stürzen nicht nur alte und gebrechliche Menschen, selbst Athleten können versehentlich von der Leiter fallen.
Die Funktion sorgte dennoch im Nachhinein für reichlich Zündstoff. Nicht bei den Hausnotrufdiensten, in deren Metier Apple jetzt zu wildern beginnt. Sondern unter anderem bei Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Deutschen Polizeigewerkschaft. Er monierte bereits kurz nach der Vorstellung: “Ich halte nichts von der Funktion. Ganz im Gegenteil: Die Gefahr ist viel zu hoch, dass die Sicherheitsbehörden mit Fehlalarmen überfordert werden”, sagte er der “Berliner Morgenpost”.
Berechtigte Zweifel oder ein typischer Fall von German Angst? Das wollte ich mit einem Experiment herausfinden. Zunächst aktivierte ich die Sturzerkennung in den Einstellungen (die erste Entwarnung: standardmäßig ist sie ausgeschaltet). Die zweite Entwarnung: Bevor der Notruf gewählt wird, erklärt Apple, klopft die Uhr mehrfach auf das Handgelenk. Danach trötet ein Alarm los. Und die ganze Zeit leuchtet das Display. Wer das nicht mitbekommt, braucht vermutlich wirklich einen Notarzt.
In einem (zugegebenermaßen nicht repräsentativen) Test ließ ich mich außerdem ein Dutzend Mal aus verschiedenen Richtungen und Geschwindigkeiten auf einen Stapel Turnmatten fallen. Einmal sogar direkt von einem Trampolin! Nicht so lebensmüde wie ein Stuntmen, aber mit so viel Schwung, dass ich ohne Polsterung Angst um meine Knochen gehabt hätte. Die Sturzerkennung sprang nie an.
Sehen Sie hier den Videotest der Sturzerkennung:

Auch wildes Gefuchtel schockt die Watch nicht
Ich weiß nicht, ob das ein gutes Zeichen ist. Womöglich hat die Uhr stets gespürt, dass ich sie austricksen will, vielleicht war auch mein Puls zu niedrig - oder zu hoch. Im Notfall wird sie hoffentlich anspringen. Aber ich kann Herrn Wendt zumindest die Angst nehmen, dass am laufenden Band Fehlalarme in den Notrufzentralen eingehen werden.
Die Watch kann übrigens auch bei zu starker körperlicher Aktivität die Sturzerkennung auslösen, heißt es in den Einstellungen. Doch auch eine schweißtreibende Session auf einem Trampolin, bei dem ich mit den Armen wild umherruderte, beeindruckte die Watch nicht. Nur der grüne Trainingsring in der Aktivitäts-App wurde etwas voller. Immerhin etwas.
Wie weit wird die Vermessung gehen?
Die tiefgreifende Vermessung des eigenen Körpers, welche die nächste Generation von Smartwatches ermöglicht, wirft auch neue Fragen auf. Denn die hochglanzpolierten Geräte sammeln nicht nur jede Menge Daten über mich. Sie werten sie auch aus, geben Tipps - und rufen im Zweifel sogar den Notarzt. Apple selbst vermarktet die Uhr als das persönlichste Produkt. Doch was ist persönlicher als mein eigener Herzschlag?
Um sich darauf einzulassen, braucht es vor allem eins: Vertrauen. Darin, dass die Technik funktioniert. Dass der Konzern mit den Daten kein Schindluder treibt. Und dass Fremde sie nicht abgreifen können. Denn die Uhr weiß in mancher Hinsicht nicht nur mehr über einen als der eigene Partner, sondern womöglich auch als man selbst. Apple betonte bei der Vorstellung, dass alle sensiblen Daten verschlüsselt auf dem Gerät verbleiben und nicht einmal das Unternehmen selbst darauf Zugriff hat. Alles bleibt zwischen der Uhr und ihrem Besitzer, beziehungsweise ihrer Besitzerin, verspricht der Hersteller.
Bislang hat man keinen Grund, daran zu zweifeln. Apple positioniert sich zunehmend gegen datenhungrige Konzerne wie Google, Facebook und Co., deren Geschäftsmodelle darauf basieren, möglichst viel über ihre Kunden in Erfahrung zu bringen. Und größere Sicherheits-Skandale gab es in der jüngsten Vergangenheit nicht. Jetzt muss Apple zeigen, dass man dem Konzern nicht nur die morgendliche Joggingroute, sondern auch seine Gesundheit anvertrauen kann.
Fazit: Ein gelungenes Upgrade
Technisch ist Apples neue Uhr sehr beeindruckend. Der große Bildschirm ist ein echter Gewinn, von dem man in jeder Situation profitiert. Auf die Zifferblätter passen mehr Informationen, E-Mails zeigen Bilder größer an, die Navigation durch die Menüs fällt dank der größeren Symbole leichter. Und das alles bei einem nahezu unveränderten Formfaktor. Im direkten Vergleich wirken die Vorgänger wie aus der Zeit gefallen. Abgesehen vom niedrigeren Preis gibt es keinen Grund, zum älteren Modell zu greifen.
Die Apple Watch Series 4 gibt es ab Freitag, 21. September in der Aluminiumvariante ab 429 Euro (40mm) und 459 Euro (44mm). Zusätzlich gibt es eine Edelstahlversion ab 699 Euro.
Ausblick
Für Apple ist die Series 4 der erste Schritt in den heiß umkämpften Gesundheitsmarkt. Der Konzern nimmt nun auch die Zielgruppe der kaufkräftigen, gesundheitsbewussten Silver Surfer ins Visier. Denn so unwahrscheinlich es ist, dass man Vorhofflimmern bekommt oder ungeschickt stürzt, bewusstlos wird und dringend Hilfe benötigt - die Angst dürfte bei vielen Menschen durchaus real sein. Diese zu lindern dürfte einigen allein die 429 Euro wert sein, welche die neue Apple Watch Series 4 mindestens kostet. Und selbst wenn es nie zum Ernstfall kommt, was immer zu hoffen ist, hat man immer noch eine potente Fitness-Uhr.
Bei den Kunden hat die neue Generation scheinbar eingeschlagen. Der Vorverkauf zieht stärker an als erwartet, heißt es von Brancheninsidern. Die Series 4 ist in nahezu allen Varianten bis Ende Oktober ausverkauft. Tim Cook Wette scheint aufzugehen: Womöglich knackt Apple in diesem Jahr erstmals die 20-Millionen-Marke.
Smartwatch Test: Hier geht es zum Smartwatch Vergleich.