AUSTAUSCH Ich glaub, mich knutscht ein Elch

Eigentlich, dachte Daniel, würde es in seinem Austauschjahr heiß hergehen, denn schließlich hatte es ihn an eine Schule in Arizona verschlagen. Doch dann lud ihn eine Mitschülerin nach Alaska ein.

Als David wenige Tage vor Weihnachten in Phoenix, Arizona, ins Flugzeug steigt, trägt er nur ein T-Shirt und Jeans. Seine Winterjacke ist ihm gerade gestohlen worden, doch hier in der Wüste, wo man im Sommer ein Ei auf der Straße braten kann, braucht man selbst im Dezember keine Jacke. Schließlich zeigt das Thermometer immer noch 20 Grad. Bald aber muss Daniel sich warm anziehen, denn die Endstation seiner Reise ist Alaska.

Fast ein Jahr, von August bis Juli, war der 18-jährige Daniel Germann aus Düsseldorf Austauschschüler an der Verde Valley School in Sedona. Das Internat liegt eine gute Stunde von der Hauptstadt Phoenix entfernt. Drum herum gibt es vor allem Kakteen, Taranteln und rote Felsen; kein Wunder, dass Rockclimbing hier eine der beliebtesten Sportarten ist.

Unter den 90 Schülern aus den ganzen USA sind immer sieben oder acht Natives, »Indianer«, die dank Stipendien die Privatschule besuchen können. Eine davon ist Joy, die zur Gruppe der Athabascans gehört und aus Alaska stammt. Sie hat Freundschaft geschlossen mit Daniel und ihn eingeladen, in den Weihnachtsferien mit in ihre Heimat zu kommen.

Als das Flugzeug Richtung Alaska einen Zwischenstopp in Seattle macht, kauft Daniel sich noch einen Fleece-Pulli. Doch der nützt nicht viel: In Fairbanks empfangen die beiden Schüler nicht nur Joys gesamte Großfamilie, sondern auch Temperaturen um minus 50 Grad. »Ich hatte das Gefühl, mein Atem friert fest«, sagt Daniel.

Eine von Joys Tanten leiht ihm erst mal eine dicke Jacke, und innerhalb kürzester Zeit ist er ausgerüstet mit drei Paar Handschuhen, einer weiteren Jacke, zwei langen Unterhosen, die unter die Jeans kommen, und einer Skihose, die er drüber zieht: »Mit diesen vielen Schichten geht man dann wie ein Astronaut.«

Am nächsten Tag fliegt Daniel mit Joy, ihrer Mutter und ihrem Nachbarn Ben weiter nach Steven's Village, dem Heimatort von Joy in der Nähe des Yukon River. Hier fahren keine Autos, Fortbewegungsmittel sind 500 PS starke Motorschlitten, die Snowmobiles. Bei der Ankunft in Steven's Village bekommt Daniel gleich ein Gewehr in die Hand gedrückt - gegen die Bären, die laut Ben zwar eigentlich schlafen, wenn sie aber doch auftauchen, sehr viel Hunger haben.

An Faulenzen ist erst mal nicht zu denken. Mit einer Kettensäge muss Daniel gefrorene Holzstücke in ofengerechte Stücke schneiden, und dann wird er noch in die Schule geschickt, weil die als einziges Gebäude Wasser aus tiefen Bodenschichten pumpt. »Wer Leitungen zu den weiter entfernten Häusern verlegen wollte, müsste gleich eine Heizung drum herum bauen«, meint Daniel und grinst.

Am nächsten Tag darf er mit auf Elchjagd - die Alaska-Elche sind die größten Hirsche der Welt. Sie haben eine Schulterhöhe von 2,35 Meter und können bis zu 800 Kilo schwer werden. Ein Dutzend Männer zieht los mit Schneemobilen und Gewehren, um den Weihnachtsbraten zu besorgen. Im Dorf murren zwar einige Natives, dass ein Weißer mit auf Jagd darf - so etwas gab es noch nie -, aber weil Joys Familie großes Ansehen genießt, legt sich der Ärger schnell wieder.

Drei Tage lang sucht die Jägergruppe vergebens nach Beute, doch plötzlich geht alles ganz schnell: Ben erblickt einen großen Elchbullen auf einer Lichtung und schießt ihm vom fahrenden Snowmobile in die Flanke. Das massige Tier fällt in den Schnee. Die Männer ziehen die Haut ab und zerlegen den Elch. Mit scharfen Messern trennen sie die Beine ab - eins davon ist so schwer, dass zwei Männer es tragen müssen.

Daniel überwindet seinen anfänglichen Ekel und packt mit an. »Die Männer haben das Tier gejagt, weil sie es als Nahrung brauchen, und nicht etwa, weil sie Spaß am Rumballern haben wie weiße Jagdtouristen«, sagt er. »Außerdem wird das ganze Tier verwertet.« Die Anatomie eines Elches kennt Daniel jetzt genau: »Vorher wusste ich nicht, wie ein Hüftgelenk aussieht und wie es funktioniert.« Einige Teile des erlegten Tieres werfen die Jäger in den Wald. Die Wölfe müssen schließlich auch satt werden, erklären sie.

Bei der Rückkehr wird das Fleisch im Dorf verteilt, jeder soll etwas für die gemeinschaftliche Weihnachtsfeier kochen. Schon am nächsten Morgen gibt es gebratenen Elch zum Frühstück. Er schmeckt Daniel sehr gut - nach einigen Tagen hat er allerdings die regelmäßige Wildkost etwas über.

In der Silvesternacht ist wie schon am Weihnachtsabend das ganze Dorf versammelt, die Bewohner feuern ihre Schusswaffen ab. Auch Daniel darf Leuchtmunition in den Himmel jagen: Feuerwerk auf Alaska-Art.

Bis es wieder zurückgeht nach Arizona kann Daniel sich erholen. Er fährt mit Joys Bruder auf dem Schneemobil durch die Gegend und genießt die wunderbar weiße, weite Landschaft; er schaut Kabelfernsehen. Er merkt, wie dicht in Alaska Tradition und Moderne nebeneinander leben: Es gibt Öfen aus alten Ölfässern und Satellitentelefone, volkstümliche Gesänge und neueste Musikvideos. »Und«, erzählt Daniel, »es gibt Toiletten mit Spülung ebenso wie Plumpsklos, auf denen man nach 30 Sekunden festfriert.«

Verena von Keitz, 30, Journalistin in Köln, war auch mal in der Nähe des nördlichen Polarkreises - in Sibirien. Dort gab es zwar kein frisches Elchsteak, dafür aber selbst gefangenen Lachs. Und es war Sommer...

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