Sehr geehrte Frau Peirano,
nach über 40 Jahren habe ich meine große Liebe aus den 80er Jahren, mit der ich auch fast zwei Jahre zusammen in einer Wohnung gelebt habe, durch Zufall wiedergetroffen. Die Anziehung war so stark, dass ich meine jetzige Frau nach einigen Wochen des Hin und Her verlassen habe und mit meiner Freundin wieder zusammen bin.
Meine Freundin wohnt in Essen, ich inzwischen in Hannover. Aus guten Gründen bin ich ins Norddeutsche gezogen, da ich ich meine wirklichen Wurzeln hier habe, aber in Essen sind meine Kinder geboren und ich habe über zehn Jahre dort gelebt. Meine Freundin hat mir tatsächlich zugesagt, am Ende dieses Jahres mit mir in Hannover eine gemeinsame Wohnung zu nehmen und mit mir - fernab von ihrer eigenen Heimat - zu leben. Trotz einiger Zweifel wollen wir es wagen - denn ohne einander geht es nicht mehr: Ich fast 68 Jahre und sie 64…
Unsere augenblickliche Beziehung ist mehr oder weniger eine verlängerte Wochenendbeziehung - wir pendeln zwischen Hannover und Essen. Ich wünsche mir so sehr einen normalen liebevollen Alltag miteinander. Wenn wir zusammen sind, merken wir natürlich unsere unterschiedlichen Persönlichkeiten und Vorstellungen, was ja auch völlig klar ist. Meine Freundin ist sehr konsequent darin, ihre Vorstellungen zu artikulieren - und nicht immer geneigt, auf mich und meine Bedürfnisse einzugehen.
Als gefühlvoller Krebs, der ich bin, wünsche ich mir manchmal - vielleicht auch fälschlicherweise -, dass wir in den wesentlichen Bereichen(?!) unserer Beziehung gemeinsam agieren. Also: Abends gemeinsam einen Film oder eine Sendung ansehen (sie ist nicht sehr am Fernsehen interessiert), klassische Musik hören oder ins Konzert gehen, Fahrradfahren (sie ist nicht sehr sportlich, aber interessiert), eine "gemütliche" Wohnung einrichten.
Meine eigentliche Frage: Wieviel Gemeinsamkeit ist wohl nötig, um eine glückliche Beziehung miteinander zu führen? Wie selbstständig, wie nahe kann man einander sein? In unseren langen und gehaltvollen Gesprächen spielt das Thema "Nähe und Distanz" und der optimale Abstand/Nähe zueinander eine große Rolle. Vielleicht klammere ich zu sehr? Wir kommunizieren sehr offen miteinander und können wohl ohne einander nicht sein - aber miteinander?
Ich möchte als alter und sehr aktiver Mann meine Lebensjahre nicht alleine verleben, sondern in Gemeinschaft. Hobbys und Interessen und eigene Dinge pflege ich, meine Freundin hat auch viele eigene Interessen. Also: Wie können wir in optimaler Distanz (nicht zu weit auseinander, da wird's kalt, aber auch nicht zu nah, da wird's zu eng und bedrückend) leben?
Mit freundlichem Gruß
Richard B.
Lieber Richard B.,
als ich Ihre Zuschrift gelesen habe, dachte ich mir, dass Sie sehr verunsichert klingen. Auf der einen Seite haben Sie die Frau wieder getroffen, zu der Sie sich sehr hingezogen fühlen. Auf der anderen Seite habe ich den Eindruck, dass die Beziehung mit ihr sich doch etwas weniger harmonisch gestaltet, als Sie sich das gewünscht haben.
Es scheint schwierig zu sein, in puncto Wohnungseinrichtung, Abendgestaltung und Sport auf einen gemeinsamen Nenner zu kommen, und Sie erleben es dabei so, dass Ihre Freundin gut auf sich selbst achtet, aber nicht immer auf Sie.
Jetzt schon gibt es einige Zweifel, wie Sie sagen, und trotz dieser Zweifel wollen Sie es wagen, in eine gemeinsame Wohnung zu ziehen. Ich schreibe jetzt einmal auf, was ich zwischen den Zeilen herauslese: "Aber ehrlich gesagt habe ich Angst, dass ich untergebuttert werden. Dass wir es nicht schaffen, uns zu einigen, und dass ich dabei den Kürzeren ziehe und verzichten muss. Und möglicherweise wird es Probleme geben, weil ich mehr Nähe brauche als sie."

Dr. Julia Peirano: Der geheime Code der Liebe
Ich arbeite als Verhaltenstherapeutin und Liebescoach in freier Praxis in Hamburg-Blankenese und St. Pauli. In meiner Promotion habe ich zum Zusammenhang zwischen der Beziehungspersönlichkeit und dem Glück in der Liebe geforscht, anschließend habe ich zwei Bücher über die Liebe geschrieben.
Informationen zu meiner therapeutischen Arbeit finden Sie unter www.julia-peirano.info.
Haben Sie Fragen, Probleme oder Liebeskummer? Schreiben Sie mir bitte (maximal eine DIN-A4-Seite). Ich weise darauf hin, dass Anfragen samt Antwort anonymisiert auf stern.de veröffentlicht werden können.
Es deuten sich Konflikte an. Unterschiedliche Sichtweisen sind per se kein Problem für eine Partnerschaft. Die entscheidende Frage ist, wie ein Paar damit umgeht. Gibt es einen offenen Austausch? Sind beide bereit, die Gefühle und Wünsche des anderen zu akzeptieren und auf diese einzugehen? Oder gibt es einen, der nur seine eigene Sichtweise für richtig hält und auch in der Umsetzung auf seine eigenen Interessen achtet?
Es hat sich in der Paarforschung herauskristallisiert, dass ein optimales Konfliktverhalten aus zwei Komponenten besteht: a) Jeder spricht offen an, was ihn stört und b) die Kommunikation über Konfliktthemen ist frei von Aggressionen und lösungsorientiert. Prüfen Sie das doch einmal für sich, wie gut Sie sich verstanden fühlen und ob Ihre Bedürfnisse auch von Ihrer Partnerin ernst genommen und erfüllt werden (oder sie sich zumindest darum bemüht).
Aufgrund Ihrer Ambivalenz und Ihrer Zweifel würde ich Ihnen von meinem neutralen Standpunkt etwas vorschlagen: Wie wäre es, wenn Ihre Freundin zwar nach Hannover zieht, aber Sie doch in der ersten Zeit (und womöglich dauerhaft) in zwei verschiedenen Wohnung leben? Wenn jeder sein eigenes Reich hätte, müssten Sie sich weder über die Wohnungseinrichtung noch 24/7 um die Tages- und Wochenplanung einigen. Sie könnten sich sehen, wenn beide sich sehen wollen - und jeder wäre frei und unabhängig in der übrigen Zeit. Wenn es Konflikte gäbe, könnte jeder sich auch mal zurück ziehen. Nichts würde Sie daran hindern, sich viel zu sehen - aber es wäre eben kein Zwang.
Diese Lösung würde aus meiner Sicht erst mal für beide eine sichere Basis bieten, aus der man schauen kann, ob man harmonisch und vielleicht mit weniger Zweifeln zusammen in einer Wohnung leben kann. Dabei möchte ich betonen, dass weder das Modell "Gemeinsam wohnen" als das Modell "Getrennt wohnen" besser oder schlechter ist als das andere. Manche Menschen meinen, dass man in einer "richtigen" Partnerschaft auch zusammen wohnen muss, ansonsten stimme etwas nicht.
Ich denke, dass es wichtig ist, dass ein Paar für sich die richtige Lösung findet. Und gerade, wenn es Nähe- Distanz-Probleme gibt, beide aus einer anderen langjährigen Beziehung kommen und sie bisher eine Fernbeziehung geführt haben, könnte das getrennte Wohnen vieles entspannen. Und außerdem könnte es die Erotik erhalten. Denn weder Konflikte noch unterschwellige Erwartungen oder Schuldgefühle sind für die Erotik förderlich.
Ich hoffe, dass Sie eine Lösung finden, die für Sie und Ihre Partnerin passt!
Herzliche Grüße
Julia Peirano