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"Familien in der Krise" "Ich finde das gnadenlos": Warum viele Eltern momentan so wütend sind

Distanz Unterricht
"Distanz-Unterricht funktioniert in Deutschland flächendeckend nicht", sagt Diane Siegloch von "Familien in der Krise". (Symbolbild)
© Jeff McIntosh/ / Picture Alliance
Schulen zu, Kitas dicht - viele Familien fühlen sich in der Pandemie von der Politik allein gelassen. Diane Siegloch von der Initiative "Familien in der Krise" erzählt, welche Maßnahmen Eltern gerade besonders wütend machen und wie es besser ginge.

"Erschöpft, wütend, fassungslos": So wie es stern-Redakteurin Julia Kepenek kürzlich in einem Kommentar beschrieben hat, geht es momentan vielen Eltern. Die Corona-Maßnahmen wurden verschärft, Schulen bleiben geschlossen, in den Kitas läuft Notbetrieb. Um genau diesen erschöpften Eltern eine politische Stimme zu geben, hat sich im Frühjahr 2020 die Initiative "Familien in der Krise" gegründet.

Die Sales-Managerin Diane Siegloch aus Hessen, Mutter von drei Kindern, organisierte eine der ersten Demos und ist Gründungsmitglied. Mittlerweile engagieren sich deutschlandweit mehr als 200 Ehrenamtliche dafür, -  alles Eltern, die auf die Belange von Familien aufmerksam machen. Und die sich langfristig auf politischer Ebene einsetzen wollen. Denn die Krise habe nur offen gelegt, was in Deutschland in Sachen Familienpolitik schon lange falsch läuft, sagt Siegloch.

Frau Siegloch, was ist denn so schlimm daran, wenn Eltern Kinder zuhause unterrichten sollen?

Zum einen ist es ein Problem, wenn Eltern arbeiten. Selbst wenn man Homeoffice machen kann, ist Kinderbetreuung und Arbeit nicht gleichzeitig möglich. Bei Grundschulkindern muss man immer daneben sitzen und sie anleiten, das geht gar nicht anders. Und besonders Kinder aus sozial schwachen Familien fallen vollkommen hinten runter. Die haben keine Endgeräte, keinen Drucker. Generell funktioniert Home-Schooling flächendeckend noch nicht. Es gibt sicherlich Ausnahmen, aber in der Regel scheitert der Distanz-Unterricht. Vor Weihnachten sind die Server zusammengebrochen, die Schulportale waren nicht zugänglich.

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Dabei war schon im Sommer klar, dass die zweite Welle kommen würde. Sind Sie überrascht, dass es wieder auf Schul- und Kitaschließungen hinaus lief?

Wir sind sehr enttäuscht. Im vergangenen Jahr im März und April sind die Kinder komplett vergessen worden. Dann wurde viel darüber diskutiert, viele Politiker haben versichert, dass Bildung und Familien wichtig sind. Und jetzt haben wir zur 80 Prozent doch wieder die gleiche Situation wie im Frühling. Das ist schockierend. Aber es wundert mich nicht. Deutschland ist kein familienfreundliches Land.

Inwiefern?

Familien haben in Deutschland nicht den Stellenwert, wie in anderen Ländern. Frankreich, Irland, Portugal haben zum Beispiel die Schulen und Kitas offen gelassen, obwohl die schon vor Weihnachten einen härteren Lockdown hatten. Generell hat Familie in Frankreich zum Beispiel eine ganz andere Bedeutung, da ist das Steuersystem viel besser auf Familien angepasst, gesellschaftlich ist es akzeptierter, wenn Kinder irgendwo mit dabei sind. Das ist in Deutschland nicht so und das ändert sich auch nicht so schnell. Das merken wir auch an den negativen Kommentaren, die wir teilweise auf unsere Arbeit bekommen.

Was sagen die Kritiker denn?

Diane Siegloch
Diane Siegloch ist Mutter von drei Kindern und Mitgründerin der Initiative "Familien in der Krise". Als "gnadenlos" empfindet sie einige Beschränkungen, die Kinder und Eltern in der Pandemie in Deutschland hinnehmen müssen. 
© privat

Es gibt leider eine große Gruppe von Menschen in Deutschland, die denken, Kinder seien ein privates Problem. Häufig hören wir: "Jetzt jammer nicht rum!", "Betreu dein Kind einfach selbst" oder "Warum habt ihr überhaupt Kinder bekommen, wenn ihr euch so viel beschwert?" Aber natürlich haben Eltern nicht damit gerechnet, dass sie mal monatelang parallel arbeiten, Kleinkinder betreuen, den Haushalt schmeißen und Schulkinder unterrichten sollen.

Es gab aber doch Verbesserungen zum ersten Lockdown: Damals waren auch die Spielplätze dicht, die haben jetzt geöffnet und Schulen und Kitas bieten in vielen Bundesländern eine Notbetreuung an.

Definitiv. Das liegt auch daran, dass man jetzt mehr über das Virus weiß. Es gibt viele Studien, die sagen, dass die Ansteckungsrate unter Kindern extrem gering ist, je jünger die Kinder sind. Trotzdem ist es erschreckend, dass das immer noch der erste Reflex ist: Ah, ein Ausbruch im Altenheim – lasst uns schnell die Schulen im Landkreis schließen. Gleichzeitig sind die Büros immer noch offen. Bei mir im Büro sitzen immer noch zehn Kollegen, eine Freundin hat mir von einer Anwaltskanzlei erzählt, in der Meetings mit 50 Personen stattfinden – völlig legal. Aber die Kinder dürfen nicht zur Schule. Das kann doch nicht sein.

Es gibt aber auch Studien, die Schulen und Kitas eben doch als Treiber der Pandemie sehen.

Natürlich finden auch dort Infektionen statt, aber es scheint zumindest so, dass Kinder keine Superspreader sind. Aktuell sagt sogar die Weltgesundheitsorganisation, dass der Schaden, den man durch Schulschließungen anrichtet, den Nutzen für die Pandemie überwiegt. Es ist immer ein Abwegen. Deshalb sollte man viel differenzierter hingucken: Wenn ein Landkreis einen Inzidenzwert über 300 hat, könnte man beispielsweise Wechselunterricht und Maskenpflicht einführen. Aber eben gezielt und mit Ende. Und nicht einfach flächendeckend die Schulen und Kitas schließen. In Schleswig-Holstein sind die Inzidenzen mancherorts unter 50 – warum müssen da die Schulen zu sein?

Was sind gerade die gängigsten Probleme der Familien?

Wir hören viel von Eltern, wenn es darum geht: Wer darf die Notbetreuung in der Schule in Anspruch nehmen? Aus Hessen haben wir einen Fall, da hieß es zum Beispiel, dass Mutterschutz kein Grund sei. Das finde ich wirklich brutal. Wenn man gerade ein Kind geboren hat, ist man körperlich erschöpft, fertig, hat einen Säugling, um den man sich kümmern muss und dann soll man nebenbei noch Schulkinder unterrichten? Das finde ich gnadenlos. Auch die Kontaktbeschränkungen machen wütend: Zwei Jungs dürfen sich nicht mehr zum Fußball spielen treffen, aber die Bundesliga läuft weiter. Das kann man alles nicht mehr verstehen. Und für Alleinerziehende ist die Situation noch schwieriger. Falls das mit den zusätzlichen Kinder-Kranktagen klappt, ist das zwar prinzipiell schön, aber welcher Chef versteht, dass man jetzt nochmal 40 Tage ausfällt? In unserer Community haben viele Alleinerziehende wirklich Existenzängste, weil sie im Job nicht mehr präsent sein können.

Woran liegt das Ihrer Meinung nach, dass in Deutschland vergleichsweise wenig für Familien in der Pandemie getan wird?

Die Bundespolitik wird stark von Menschen bestimmt, die keine Kinder haben: Die Kanzlerin hat keine Kinder, Jens Spahn nicht, der Kanzleramtschef Helge Braun auch nicht und darin spiegelt sich wider, dass Familien keine Priorität haben. Die Ministerpräsidenten versuchen oft, andere Lösungen zu finden, aber der Druck aus der Bundespolitik ist zu groß.

Was könnte die Politik denn tun? Was sind Ihre Forderungen?

Wir fordern, dass der Schulbetrieb nicht so extrem eingeschränkt wird und viel stärker auch in andere Bereiche geguckt wird, um dort alles rauszuholen, damit die Infektionen sinken. Im Arbeitsbereich gibt‘s noch viel Luft nach oben: Bei Amazon stehen die Päckchenpacker immer noch eng auf eng in der Lagerhalle, in den Fleischbetrieben gibt es Ausbrüche. Andere Länder haben längst eine Pflicht für Homeoffice. Es ist unverständlich, warum da nicht richtig rangegangen wird - aber bei Schulen und Kitas verschärfte Maßnahmen gelten.  

Wie kann ein Balance-Akt zwischen Sicherheit und Recht auf Betreuung aussehen?

Für die jüngeren Kinder wünschen wir uns wieder Schule im Präsenzunterricht mit den Maßnahmen, die es vor Weihnachten bereits gab. Also Lüften, Hygienekonzepte, Luftfilter. Für die älteren Jahrgänge brauchen wir zumindest Wechselunterricht, damit die Kinder wenigstens mal drei Tage die Woche dort sind. Das würde schon helfen. Es ist unglaublich schwierig, Teenager zuhause zu motivieren, wenn die Lehrer eh nicht merken, ob man im Zoom-Call dabei war oder nicht.

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