Drogenkrieg Koks und Terror

Auftragsmorde, Bombenanschläge, Entführungen: Der Drogenkrieg in Belgien und den Niederlanden untergräbt den Staat. Ein stern-Report.

Aus dem stern-Archiv.
Der Drogenkrieg in Belgien und den Niederlanden könnte auch für Deutschland gefährlich werden
Die Mafia gegen den Staat: Ein Drogenkrieg in den Niederlanden und in Belgien hat bereits Hunderte Menschenleben gekostet. Auch unschuldige Opfer sind darunter
© Christian Lohfink / stern

In Brüssel eskaliert die Gewalt. Bei einer Schießerei in der Nacht auf Freitag kam in der belgischen Hauptstadt ein Mann ums Leben, wie die Staatsanwaltschaft mitteilte. Es war bereits der vierte nächtliche Schusswechsel binnen 48 Stunden. Unweit des zentralen Brüsseler Südbahnhofs hatten erst am Mittwoch zwei Maskierte mit Sturmgewehren um sich geschossen und waren anschließend in eine Metrostation geflüchtet. Die Behörden machen Drogenbanden für die Gewalt verantwortlich, der Bürgermeister des betroffenen Stadtviertels Anderlecht sprach von Revierkämpfen. Die Schießereien reihen sich ein in eine Serie von Gewalttaten, die Belgien und die Niederlande seit Jahren herausfordern. Den folgenden Report über den Drogenkrieg in unseren Nachbarländern veröffentlichte der stern erstmals im Frühjahr 2023. Anlässlich der Gewaltwelle in Brüssel publizieren wir ihn erneut.

Der Anwalt

Am ersten Freitagmorgen dieses Jahres tritt Vito Shukrula aus seiner Kanzlei im Westen Amsterdams. Der Strafverteidiger, 34 Jahre alt, zieht die Tür zu und eilt über die Straße zu seiner schwarzen Mercedes-C-Klasse: Gerader Rücken, fester Gang, der Anzug sitzt, die Schuhe glänzen. Am Handgelenk trägt er eine Uhr von Cartier.

Shukrula wird an diesem Tag einen Job erledigen, um den er sich nicht gerissen hat. Viele Niederländer kennen ihn als aufstrebenden Anwalt aus der Zeitung oder dem Fernsehen. Meistens vertritt er Männer, denen nachgesagt wird, für die Kokainmafia zu arbeiten. Auch diesmal. Aber diesmal ist sein Job heikler als sonst, noch heikler.

Vito Shukrula verteidigt einen Angeklagten im Mordfall de Vries. Seine Familie hat ihn bekniet, es nicht zu tun
Vito Shukrula verteidigt einen Angeklagten im Mordfall de Vries. Seine Familie hat ihn bekniet, es nicht zu tun
© Kadir van Lohuizen / NOOR

Diesmal verteidigt er einen der Angeklagten im aktuell bedeutendsten Mordfall der Niederlande. Er sagt, er hatte sich schon gegen das Mandat entschieden, dann aber seien die Bauchschmerzen gekommen – "echte körperliche Schmerzen". Er sagt: "Ich habe mich gefühlt, als würde ich den Schwanz einziehen." Vielleicht verteidigt er diesmal auch die eigene Ehre vor sich selbst.

Die Verhandlung beginnt in einer Dreiviertelstunde.

Shukrulas Mandant ist angeklagt, in die Ermordung von Peter R. de Vries verwickelt zu sein. Der Kriminalreporter war 2021 auf offener Straße erschossen worden. Womöglich im Auftrag der Kokainmafia. An diesem Freitag stehen fünf der Beschuldigten erstmals gemeinsam vor Gericht.

De Vries, das sagen viele Niederländer nur halb im Scherz, war der zweitbekannteste Mann des Landes. Nach dem König. De Vries mischte sich in Debatten ein, trieb Ermittlungen voran. Er war Journalist, Aktivist, Bürger, war streitbar und kontrovers. Immer auf Sendung, immer auf Mission. Die letzte war der Kampf gegen das organisierte Verbrechen.

Der bekannte Journalist Peter R. de Vries wurde am 6. Juli 2021 auf offener Straße erschossen, mutmaßlich von der Kokainmafia
Der bekannte Journalist Peter R. de Vries wurde am 6. Juli 2021 auf offener Straße erschossen, mutmaßlich von der Kokainmafia
© imago images/ANP

Der Mord schockierte ganz Europa. Und tilgte den letzten Zweifel daran, dass die Verbrecher es auch darauf abgesehen haben, worauf die Niederlande besonders stolz sind: ihre liberale Gesellschaft.

Ein Land wie eine Puppenstube, vollgestopft mit Offenheit und Toleranz und Freundlichkeit, mit Grachten und Windmühlen und Tulpen? Mag sein. Aber auch: mit Kokain, Gewalt, Kalaschnikows.

Erschienen in stern 21/2023