Großbritanniens Bürger ächzen unter einem kostspieligen Alltag. Die Inflation lag zuletzt etwas über 10 Prozent und damit höher als in der Eurozone oder in den Vereinigten Staaten. Stärkster Preistreiber sind die Lebensmittel. Im März kosteten sie im Vergleich zum Vorjahresmonat fast 20 Prozent mehr – eine vergleichbare Preissteigerung gab es zuletzt im August 1977.
Wie die Menschen mit der Inflation umgehen, ist unterschiedlich. Manche werden laut, werfen ihre Arbeit kurzfristig hin, um öffentlich zu streiken, wie es zuletzt Mediziner, Krankenschwestern, Lehrer, Beamte und Lokführer taten. Wohltätigkeitsorganisation warnen indes vor einem Trend, von dem überwiegend Frauen betroffen sind: Die Einrichtungen befürchten, dass sich viele ihren Unterhalt mit Prostitution verdienen.
Von derartigen Fällen berichtet unter anderem die Wohltätigkeitsorganisation Beyond the Streets. Mitarbeiter hätten mit Frauen gesprochen, die Niedriglohnjobs mit Prostitution "aufbessern" müssten oder im Escort gefangen seien, um über die Runden zu kommen, berichtet der "Guardian". Die Organisationen befürchten, dass sich Missbrauchsfälle und Ausbeutung so weiter häufen.
Die Lateinamerikanische Frauenhilfe hat in den vergangenen Monaten in Großbritannien mehrere Fälle festgestellt, in denen sich Asybewerberinnen für kostenloses Wohnen prostituierten. In einem Fall habe eine Frau mehrere Monate auf einer Couch übernachtet, als sie einen Mann kennenlernte, der ihr eine Unterkunft versprach und sie anschließend im Schlaf sexuell missbrauchte. Zudem gebe es Fälle, in denen Asylbewerberinnen in öffentlich-rechtlichen Unterkünften belästigt und misshandelt würden. "Dadurch haben sie Angst, diese Dienste in Anspruch zu nehmen, was sie zur leichten Beute für Täter macht, die in Privatunterkünften leben", sagt die Koordinatorin der Beratungsstelle für Gewalt gegen Frauen und Mädchen der Organisation, Belén Ruiz.
Britisches Innenministerium reagiert halbherzig
Vertreter verschiedener Kampagnen und Hilfsorganisationen sind sich einig, dass die Wirtschaftslage Großbritanniens Frauen in diese prekäre Lage zwingt. "Die Krise der Lebenshaltungskosten ist eine Triebfeder [für Überlebenssex], und diejenigen, die bereits gefährdet sind, sehen sich erheblicher Ausbeutung ausgesetzt", sagte eine Sprecherin der Organisation Beyond the Streets. Es fehle an staatlichen Mitteln, um die Bedürfnisse der Frauen zu unterstützen. Auch die Wohltätigkeitsorganisationen kämpften mit sinkenden Einnahmen, während die Ausgaben weiter stiegen.
"Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Lage, in der wir uns derzeit befinden, wissen wir, dass Frauen vermehrt und in verschärftem Maße von Tätern kontrolliert und finanziell missbraucht werden", sagt die Leiterin der politischen Abteilung von Women's Aid, Lucy Hadley dem "Guardian". Zudem erschwere die wirtschaftliche Lage es, aus derartigen Missbrauchsbeziehungen auszubrechen.
Das britische Innenministerium hat dem "Sex for Rent" oder "Survival Sex" jüngst den Kampf angesagt. Innenministerin Suella Braverman will mit einem neuen Gesetz gegensteuern. Dieses solle sich gegen Vermieter richten, die schutzbedürftige Menschen sexuell ausbeuten. Über einen öffentlichen Aufruf will die Ministerin zudem Beweise sammeln, um gegen das Problem vorzugehen. Eine Sprecherin teilte zudem mit, dass "die Ausbeutung durch 'Sex zur Miete' bereits nach dem Sexual Offences Act illegal" ist. "Wir haben uns verpflichtet, alle Formen von Gewalt und Einschüchterung gegen Frauen und Mädchen, einschließlich häuslicher Gewalt, zu unterbinden." Zudem wolle das Ministerium 230 Millionen Pfund (rund 260 Millionen Euro) investieren, um häusliche Gewalt zu bekämpfen.
Prekäre Lage an britischen Tafeln
Nach Einschätzung von Women's Aid-Mitglied Hadley werden die Pläne aber nicht die eigentlichen Probleme beseitigen, nämlich Obdachlosigkeit, Armut und Ungleichheit. Die betreffen nicht nur Frauen, zeigt sich an den Tafeln Großbritanniens. Dort wurden innerhalb eines Jahres erstmals mehr als eine Million Notfall-Lebensmittelpakete an Kinder ausgeteilt. "Das ist ein furchtbares erstes Mal", sagte die Chefin der Wohltätigkeitsorganisation Trussell Trust, Emma Revie, der BBC am Mittwoch.

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Insgesamt händigte der Trust, zu dem 1300 Tafeln in Großbritannien gehören, zwischen April 2022 und März 2023 knapp drei Millionen Notfall-Pakete aus, das waren 37 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Davon gingen 1,1 Millionen an Minderjährige, im Vorjahr waren es gut 835.000. Mehr als 750.000 Menschen, die Hilfe erhielten, hatten zuvor nie eine Tafel besucht, zitierte die BBC aus dem Jahresbericht der Organisation weiter. Jeder Fünfte, der sich an eine Tafel wandte, stammte aus einem Haushalt, in dem mindestens eine Person einen Job hatte.
Das zuständige britische Arbeitsministerium betonte wiederum, die direkte finanzielle Unterstützung für arme Familien sei so hoch wie nie zuvor.
Doch die Not der Briten ließe sich nicht allein durch die gestiegenen Kosten erklären. "Das andauernd niedrige Einkommensniveau und ein nicht zweckdienliches Sozialversicherungssystem zwingen mehr Menschen dazu, auf Tafeln zurückzugreifen", sagte Rivie. "Tafeln wurden gegründet, um Menschen in Notlagen kurzfristig zu unterstützen – sie sind keine dauerhafte Lösung gegen Hunger und Armut."