Ginge es nach dem Willen seiner Ärzte im Great Ormond Street Hospital in London, wäre Charlie, zehn Monate alt, längst tot. Doch der Junge lebt - noch. Sein Überleben sichern derzeit Maschinen: der Beatmungsschlauch, der in seiner Nase steckt und ihn mit Sauerstoff versorgt. Die Magensonde, über die er künstlich ernährt wird. Charlie kann weder von selbst atmen, noch schlucken. Eine schwere und unheilbare Erbkrankheit wird ihn vermutlich in absehbarer Zeit das Leben kosten. Seine Ärzte halten Charlies Kampf deshalb für aussichtslos. Sie wollen die Maschinen abstellen. Charlie soll sterben.
Seine Eltern dagegen haben noch Hoffnung. Sie glauben, eine experimentelle Behandlung in den USA könnte das Leiden des Jungen lindern, ihn vermutlich nicht heilen, aber zumindest ein Stück Lebensqualität schenken. Sie wollen, dass ihr Junge die Therapie erhält und haben bereits 1,3 Millionen Pfund an Spenden gesammelt. Das Problem: Dafür muss Charlie am Leben bleiben, und seine Ärzte sträuben sich dagegen. Es ist ein quälender Kampf, der in Großbritannien bereits durch etliche gerichtliche Instanzen gegangen ist. Jetzt hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Beschwerde der Eltern als unzulässig abgewiesen: Die Ärzte können die Behandlung demnach endgültig abbrechen.
An welcher Krankheit leidet Charlie?
Charlie Gard leidet an einer schweren Erbkrankheit: dem mitochondrialen DNA Depletionssyndrom. Beide Eltern sind Träger eines mutierten Gens. Bei der Krankheit liegt ein Defekt der Mitochondrien vor, den Kraftwerken der Zellen. Nach Angabe von Charlies Ärzten haben Gehirn und Muskeln des Jungen bereits Schaden genommen. Auch sein Herz, seine Leber und seine Nieren seien geschädigt, wenn auch nur leicht. Zudem leide er an Epilepsie. Charlie könne weder seine Arme, noch seine Beine bewegen oder selbstständig atmen. Ob er Schmerzen habe, ließe sich nicht zweifelsfrei feststellen, heißt es in einer Mitteilung des Krankenhauses. Charlies Eltern dagegen glauben, dass ihr Sohn nicht leide - er habe das Recht auf die experimentelle Therapie in den USA, selbst wenn sie nur eine kleine Chance auf Besserung berge. Die mitochondriale Krankheit, an der Charlie erkrankt ist, gilt derzeit als nicht heilbar. Sie führt in der Regel nach einigen Monaten bis hin zu einigen Jahren zum Tod.
Bereits im April hatte ein Gericht einen Behandlungsstopp für das todkranke Kind angeordnet und war damit einem Antrag der Ärzte gefolgt. Das Kind solle in Würde sterben können, lautete das Urteil des Richters. Charlies Eltern, Connie Yates und Chris Grad, legten Berufung ein und mussten Anfang Juni einen weiteren Rückschlag hinnehmen. Auch der oberste Gerichtshof folgte der Argumentation der Ärzte und erklärte, die Beatmungsmaschine dürfe abgestellt werden. Nun also das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg, der zuvor per einstweiliger Verfügung angeordnet hatte, dass Charlie vorerst weiterleben dürfe.
Der Fall sorgt international für Schlagzeilen - Hunderttausende Menschen nehmen Anteil an Charlies Schicksal. Auf Facebook und Twitter posten seine Eltern Fotos des Jungen. Außerdem betreiben sie einen eigenen Blog unter dem Namen "Charlies Fight". Öffnet der Kleine seine Augen, feiern seine Eltern das wie einen Triumph. Als Charlie vor zwei Wochen seine Augen aufschlug, machte seine Mutter ein Foto und veröffentlichte es auf Facebook. "Ein Bild sagt mehr als Tausend Worte", schrieb sie darunter.
Die Diskussion um das Leben des Kleinen berührt viele Menschen und spaltet sie in zwei Lager: Die einen schlagen sich auf die Seite der Eltern, argumentieren, die Maschinen dürfen nicht abgestellt werden, solange es noch einen Funken Hoffnung gebe - auch wenn er noch so winzig ist. Die anderen vertrauen auf das Urteil der Ärzte und glauben, selbst wenn die Behandlung anschlage, wäre die Chance gering, dass Charlie je ein vollkommen normales Leben führen könne.
Reale Chance auf Besserung? Was es mit der Therapie in den USA auf sich hat
Auf Wunsch von Charlies Eltern soll ihr Kind in den USA eine sogenannte Nukleosid-Therapie erhalten. Dabei handelt es sich um eine experimentelle Behandlung, die bislang nur an Mäusen getestet wurde. Ob sie zudem bei Charlies sehr seltener Form der Erkrankung anschlägt, ist unklar. Ein Richter, der mit Charlies Fall betreut war, erklärte, die Behandlung würde "keinen Effekt haben, aber könnte Schmerzen, Leiden und Qual für Charlie bedeuten".
Der Neurologe, der Charlie in den USA behandeln möchte, will anonym bleiben. Er erklärte vor Gericht, es gebe "eine kleine Chance", dass sich die Gehirnfunktion des Jungen durch die Therapie verbessere. Einer Heilung käme das zwar nicht gleich. Aber vielleicht könne er "interagieren, lächeln, sich Dinge ansehen", so der Arzt. Aus dieser Einschätzung des Arztes schöpfen Charlies Eltern Hoffnung.
Charlies Geschichte weckt Emotionen, weil sie quälende Fragen aufwirft: Darf ein Leben enden, bevor es überhaupt richtig begonnen hat? Rechtfertigt Hoffnung eine experimentelle Therapie? Und nicht zuletzt: Wann ist es an der Zeit, einen geliebten Menschen gehen zu lassen?
Lebenserhaltende Maßnahmen bei einem Kind sind ein Sonderfall in der medizinischen Behandlung. Denn grundsätzlich wird etwa eine Beatmung nur aufrechterhalten, wenn sie medizinisch sinnvoll ist und der Patient dies auch ausdrücklich wünscht. Nur wie lässt sich der Wille eines Kindes feststellen, das noch nicht einmal Sprechen gelernt hat? Bei Erwachsenen ist dies oft einfacher zu bestimmen: "Womöglich haben sie sich in der Vergangenheit über ihre Einstellung zu lebenserhaltenden Maßnahmen geäußert oder besitzen eine Patientenverfügung", sagt Giovanni Maio, Medizinethiker und Direktor des Instituts für Ethik und Geschichte der Medizin an der Universität Freiburg. Dementsprechend können die Maschinen angelassen oder abgestellt werden - so wie es Wunsch des Patienten ist.
"Es kommt darauf an, wie stark selbst kleinste Chancen gewichtet werden."
Im Regelfall, so Maio, würden Ärzte und Mediziner gemeinsam mit den Eltern entscheiden, ob eine lebenserhaltende Maßnahme bei Kindern aufrechterhalten werde. Im Zentrum steht dabei die Frage des Kindeswohls: Ist es im Interesse des Kindes, dass es weiter beatmet ist? Kann es in seiner gegenwärtigen Situation noch Freude empfinden? Ist eine weitere Behandlung nur mit Leid und Schmerz verbunden? Grundsätzlich, so Maio, dürften Eltern darüber entscheiden, wann das Kindeswohl noch gewährleistet ist - und wann nicht mehr. In Deutschland werde der Entscheidungsbefugnis der Eltern eine größere Rolle beigemessen - anders als beispielsweise in Großbritannien, erklärt Maio. Er ist überzeugt: "In Deutschland wäre ein vergleichbarer Fall nicht vorstellbar."

Das Argument, der Junge sei womöglich für den Rest seines Lebens schwer behindert und eine weitere Therapie sinnlos, will Maio nicht gelten lassen: "Warum sollte er nicht auch mit einer Behinderung Lebensqualität erfahren? Jetzt lebt das Kind. Und es ist ein gefühltes Leben."
Handeln - zum Wohle des Kindes
Die elterliche Entscheidungskraft könne nur ausgehebelt werden, wenn es klare Hinweise auf einen Missbrauch der elterlichen Fürsorgepflicht gebe - also wenn sich der Wunsch der Eltern eindeutig gegen das Wohl des Kindes richte und ihm mutwillig Leid zufüge. "Doch dafür sehe ich beim aktuellen Fall aus England keine Anhaltspunkte", sagt Maio. Er könne den Wunsch der Eltern auf die Behandlung in den USA "nachvollziehen" - selbst wenn die Chance auf Besserung noch so gering ist. "Es kommt darauf an, wie stark selbst kleinste Chancen gewichtet werden."
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat nun eine andere Entscheidung über das Schicksal des kleinen Charlie getroffen. Alle Seiten - Eltern, Richter, Ärzte - wollen nur das Beste für den Jungen. Daran zeigt sich das ganze Dilemma des Falls.