Schon der Termin kam Anfang des Jahres überraschend: Von diesem Montag an beschäftigen sich Vertreter der 28 Mitgliedstaaten der Europäischen Union damit, ob das Herbizid Glyphosat weitere 15 Jahre in der EU zugelassen werden darf, am Dienstag soll abgestimmt werden. Dabei bliebe für die Entscheidung eigentlich noch Zeit. Erst im Juni 2016 läuft die Zulassung aus.
Man wolle die Entscheidung nicht erst am allerletzten Tag fällen, heißt es bei der Europäischen Kommission. Doch nicht alle Mitgliedsstaaten sind gewillt, die Eile mitzutragen, berichtet der "Guardian". Schweden, Frankreich und die Niederlande kündigten Widerstand an. Es zeichnet sich ab, dass die Abstimmung vertagt werden könnte. Und das wäre auch gut so.
Hintergrund: Der Streit um Glyphosat
Seit einiger Zeit streiten Experten darüber, wie gefährlich Glyphosat ist. Die Internationale Agentur für Krebsforschung IARC der WHO hat das Herbizid im März des vergangenen Jahres als "wahrscheinlich krebserregend für Menschen" eingestuft. Die komplette Monographie wurde im Juli veröffentlicht. Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) geht davon aus, dass bei richtiger Anwendung keine Gefahr besteht. Ähnlich sieht das die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit Efsa. Sie geht ebenfalls davon aus, dass Glyphosat keine Gefahr für die Gesundheit von Menschen darstellt. Eine Einschätzung, gegen die knapp 100 Wissenschaftler in einem offenen Brief protestierten.
Wie kann es zu so gegenteiligen Ansichten kommen? Kurz gesagt: Die IARC und die Efsa beziehen unterschiedliche Studien in ihre Auswertung mit ein. Die Einschätzung der IARC beruht auf fünf Studien an Mäusen, die vor der Publikation einen sogenannten Peer Review unterzogen, also durch unabhängige Experten auf dem Fachgebiet geprüft wurden. Die Efsa hingegen bezog laut "Nature" in ihre Bewertung auch industriefinanzierte Studien mit ein, nicht alle sind öffentlich. Kritiker werfen der Efsa daher vor, sie fälle ihre Entscheidungen nicht völlig unabhängig von Industrieinteressen. Zudem unterscheiden sich die Efsa und die IARC hinsichtlich ihres Blickwinkels: Die IARC beurteilt die prinzipielle Gefährlichkeit des Stoffs und sein Potenzial, Krebs auszulösen. Die Efsa legt den Fokus auf die Anwendung des Mittels und darauf, ob es bei korrektem Gebrauch ein Risiko darstellt.
Seit Monaten tobt ein erbitterter Streit um Glyphosat. Die Grünen, Umweltverbände und Agrarlobby üben sich wechselseitig in der Kunst der Überspitzung: Die einen überzeichnen das Unkrautvernichtungsmittel auf wissenschaftlich unsauberer Basis zu einer der größten Gefahren für die Menschheit und verunsichern Bürger mit Meldungen, dass Glyphosat in Lebensmitteln und im Urin mittlerweile nachweisbar ist - obwohl unklar ist, ob diese geringen Mengen tatsächlich ein Gesundheitsrisiko darstellen. Die anderen preisen das Herbizid als alleinigen Heilsbringer an, ohne den es zu massiven Ernteeinbrüchen weltweit kommen würde.
Übereilte Entscheidung
Dabei ist Panikmache, egal von welcher Seite, der Sache wenig dienlich. Doch genauso wenig darf der Eindruck entstehen, dass die EU-Kommission nun rasch Fakten schaffen will, um der Industrie einen Gefallen zu tun. Denn in der Tat hätte eine so hastig durchgezogene Abstimmung ein Geschmäckle, auch wenn das Verfahren den Vorgaben entspricht.
Momentan stehen zwei unterschiedliche Ansichten zur Gefahr von Glyphosat im Raum: "Potenziell krebserregend", zu diesem Schluss kommt die zur WHO gehörende Internationale Agentur für Krebsforschung (IARC). Das Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) und die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit (Efsa) sehen das anders: Bei korrektem Gebrauch gehe keine Gefahr von dem Herbizid aus. Heißt: Erst die Dosis macht das Gift. Gegen die Einschätzung der Efsa protestierten 96 namhafte Wissenschaftler in einem offenen Brief.
Schon die Fachwelt ist also tief zerstritten. Zwar ist zumindest zum Teil erklärbar, wie die Institutionen zu den unterschiedlichen Einschätzungen gelangen (siehe Kasten). Doch ob das Herbizid tatsächlich krebserregend ist oder nicht, lässt sich momentan nicht sicher sagen. Bevor die Zulassung von Glyphosat verlängert wird, wäre es daher wünschenswert, dass die Efsa im Sinne der Transparenz auch die industrienahen Studien veröffentlicht, die sie zur Bewertung des Risikos herangezogen hat.
Darüber hinaus ist es vollkommen unverständlich, dass die EU über die Zulassung abstimmen will, ohne bereits angekündigte Neubewertungen in ihre Entscheidung mit einfließen zu lassen. Bereits für Anfang Mai haben die Welternährungsorganisation FAO und die WHO ein Treffen anberaumt, in dem sie sich erneut mit dem Thema Glyphosat beschäftigen wollen. Anders als bei der IARC-Bewertung soll es diesmal auch um die konkrete Gesundheitsgefahr für den Menschen gehen.
Bevor die EU über die Zulassung von Glyphosat für weitere 15 Jahren entscheidet, sollte sie die Einschätzung des WHO-Gremiums anhören. Das wäre nicht nur vernünftig, es würde auch das Vertrauen der Bürger in die EU-Institutionen stärken. Zeitlich gibt es jedenfalls keinen Grund, dieses Treffen nicht abzuwarten.
Wie läuft das Verfahren ab?
Der Prozess über die Neuzulassung der Chemikalie ist ein normales Procedere. Die Rolle des Berichterstatters kam bei Glyphosat dem Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) zu. Seine Aufgabe war es, das gesundheitliche Risiko des Wirkstoffes einzuschätzen. Dies diente der Efsa als Grundlage für ihre Bewertung, die sie an die EU-Kommission und die Mitgliedsstaaten der EU übermittelt hat.
Die EU-Kommission plädiert für eine Verlängerung der Zulassung bis 2031. Ein umstrittener Zusatzstoff, Tallowamin, soll allerdings verboten werden.
Die Entscheidung über die Verlängerung der Zulassung fällt in einem Fachausschuss, in dem Vertreter der EU-Mitgliedstaaten sitzen, in einem sogenannten Komitologie-Verfahren. Diese Verfahren finden unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.
Stimmt eine qualifizierte Mehrheit der Mitgliedstaaten für die Verlängerung der Zulassung von Glyphosat, ist sie beschlossen. Ist eine qualifizierte Mehrheit dagegen, muss die EU-Kommission einen neuen Vorschlag machen. Eine qualifizierte Mehrheit heißt, dass über einen Verteilerschlüssel der Bevölkerungszahl der einzelnen Mitgliedstaaten Rechnung getragen wird. Deutschlands Stimme wird also viel mehr wiegen als die Stimme Maltas.
Am Montag teilte die Bundesregierung mit, dass sie sich noch auf keine Position festgelegt habe. Die Abstimmung zwischen den Ressorts laufe noch, sagte eine Sprecherin des Bundeslandwirtschaftsministeriums.
AFP/DPA