Dänemarks Freedom Day 2.0 – also die Aufhebung sämtlicher Corona-Restriktionen – hat international für viel Aufsehen gesorgt. Nicht zuletzt, weil das skandinavische Land die Öffnung trotz hoher Infektionszahlen vollzogen hat. Seit dem Wegfall aller Maßnahmen sind die Zahlen im Land tatsächlich nicht gefallen – zum Teil sogar gestiegen.
Zahlen und Grafiken der staatlichen Gesundheitsbehörde Statens Serum Institut (SSI) zeigen, dass sich die Zahl der täglichen Neuinfektionen auf einem hohen Niveau einpendelt. Die Zahl der Hospitalisierungen ist in den vergangenen Wochen gestiegen, ebenso die Todesfälle im Zusammenhang mit Corona. Die Zahl der Intensiv-Patient:innen bleibt aber auf einem niedrigen Niveau: Aktuell liegen 31 Menschen in Dänemark mit Corona auf den Intensivstationen. Zum Vergleich: In Hamburg – was rund dreimal weniger Einwohner:innen als Dänemark hat – wird diese Zahl mit 68 angegeben.
Schwere Vorwürfe wegen Öffnung in Dänemark
Dennoch: Internationale Corona-Experten kritisieren den dänischen Weg. Auf Twitter führen sie mit Grafiken aus, warum Dänemarks Öffnungen falsch seien. Einer von ihnen ist der Epidemiologe Eric Feigl-Ding, der lange an der Harvard University war. Die dänische Regierung habe "völlig ihren verdammten Verstand verloren", so Feigl-Ding auf Twitter. Er zeigt dabei eine Grafik vom Datenportal "Our World in Data". "Das sind exponentiell steigende TODESFÄLLE, keine Infektionen!!! Das passiert, wenn die Führer eines Landes seine eigenen Bürger gaslighted." Unter "Gaslighting" versteht man, wenn jemand versucht, einen anderen Menschen gezielt zu verunsichern – bis es zu einem Zusammenbruch kommt.
Es gebe eine "endemische Täuschung". "Sagen Sie, was Sie wollen, über die Intensivstationen, aber die Krankenhauseinweisungen und Todesfälle lügen nicht." Feigl-Ding gab zwar an, dass viele zwar "mit" und nicht "wegen" Covid-19 gestorben seien. "Aber Dänemark hat wirklich eine riskante Haltung eingenommen, dass Covid keine ernsthafte Krankheit ist." Man würde Todes- und Hospitalisierungszahlen ignorieren.
Das SSI antwortete Feigl-Ding direkt auf seinen Twitter-Thread: "Wir möchten noch einmal betonen, dass die Zahlen, die Sie mit Ihren Followern teilen, Todesfälle mit C-19 zeigen. Nicht Todesfälle wegen C-19." Feigl-Ding erwiderte: "Wer auch immer Ihr Konto führt, erweist den Bürgern Ihres Landes und der Welt einen großen Bärendienst. Das 'mit vs wegen' ist eine bekannte alte Leugnung von Covid."
In diesen Ländern werden die Corona-Maßnahmen gelockert

Gesundheitsbehörde antwortet auf Twitter
Auch Eric Topol, Kardiologe aus den USA, veröffentlichte auf Twitter Grafiken von "Our World in Data" mit dem Kommentar, dass es in Dänemark "nicht gut aussehe". Auch der US-amerikanische Wirtschaftswissenschaftler, Nobelpreisträger und Kolumnist Paul Krugman schrieb auf Twitter: "Sind wir uns also wirklich sicher, dass wir uns beeilen wollen, alle Covid-Beschränkungen aufzuheben?"
Das SSI will die Kritik nicht auf sich sitzen lassen. Seit einigen Tagen beantwortet die Behörde auf Twitter Einträge zu den dänischen Corona-Zahlen – auch bei Fachleuten. Auf dem Twitteraccount des SSI kann man sehen, wo und wie geantwortet wird, oft auf Englisch. Oft sind die Expert:innen des SSI damit beschäftigt, den Unterschied zwischen "wegen" und "mit" Corona hospitalisiert bzw. verstorben zu erklären, wie der dänische Fernsehsender TV2 berichtet.
SSI-Pressechef Flemming Platz sagte TV2, er denke, dass es notwendig war, die Zahlen ins rechte Licht zu rücken. Viele der Twitter-Posts hätten nicht berücksichtigt, dass in den letzten Wochen die Zahl der Menschen, die mit und nicht wegen des Coronavirus ins Krankenhaus eingeliefert wurden oder starben, gestiegen ist. "Aber das kann man im Ausland nicht lesen, und es wird missverstanden. Manche tun es absichtlich, manche tun es, weil sie kein Dänisch verstehen."

SSI widerlegt Behauptungen online
Die Informationskampagne geht sogar so weit, dass die Gesundheitsbehörde eine eigene Internetseite gestartet hat, in der auf Englisch über die "typischen Fehlinformation bezüglich dänischer Covid-Zahlen" informiert wird. Hier wird auf verschiedene Thesen und Fragen eingegangen.
Zu der Behauptung, dass in Dänemark sehr viele wegen einer Corona-Infektion in die Krankenhäuser eingeliefert werden, schreibt das SSI, dass dies nicht korrekt sei. "Bis Woche 5, 2022, waren 2.391 Covid-19-positive Personen ins Krankenhaus eingeliefert worden, verglichen mit 296.630 PCR-bestätigten Covid-19-Fällen. Der Anteil der Krankenhausfälle von Covid-19-positiven Personen ist seit September 2021 zurückgegangen. Der Anteil der Covid-19-positiven Personen, die wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, ist seit Juli 2021 im Vergleich zu Personen, die mit Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wurden, zurückgegangen. Der Anteil der wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingelieferten Personen bis Woche 5 beträgt nun etwa 60 % der Covid-19-positiven Personen im Krankenhaus."
Das SSI stellt hier klar: "Hospitalisiert wegen Covid-19 bedeutet, dass eine Person wegen Covid-19 ins Krankenhaus eingeliefert wird. Hospitalisiert mit Covid-19 bedeutet, dass eine Person ins Krankenhaus eingeliefert wird und einen positiven PCR-Test hat. Dies bedeutet nicht, dass die Person wegen Covid-19 im Krankenhaus ist." Ein Beispiel: Jemand, der wegen eines Beinbruchs ins Krankenhaus eingeliefert wird und zusätzlich noch einen positiven Corona-Test hat, ist mit Covid-19 hospitalisiert.
Psychiatrien füllen sich mit Covid-Patient:innen? Falsch, sagt SSI
Auch Henrik Ullum, Chef des SSI sagte dem stern in einem Gespräch anlässlich des Endes der Corona-Restriktionen am 1. Februar: "Wir können in unseren Statistiken sehen, dass es immer mehr Fälle gibt, bei denen die Corona-Infektion zufällig ist. Zum Beispiel befinden sich laut unserer Statistik 20 Prozent unserer Patienten in unseren psychiatrischen Abteilungen, die obendrein an Covid erkrankt sind."
Doch auch da scheinen falsche Informationen im Umlauf zu sein. So listet das SSI die Behauptung auf, dass die psychiatrischen Abteilungen mit Covid-Patient:innen füllen würden, da die Zahl der Intensivbetten verringert wurde. Die Antwort der Behörde darauf: "Die steigende Zahl von Covid-19-positiven Personen in psychiatrischen Abteilungen spiegelt die Tatsache wider, dass bis Woche 4 des Jahres 2022 eine steigende Zahl von Personen in Dänemark mit der Omikron-Variante infiziert wurde, was im Vergleich zu früheren Varianten zu einer milderen Erkrankung führt."
Außerdem sei ein sehr hoher Anteil der dänischen Bevölkerung gegen das Coronavirus geimpft. "Aus den gleichen Gründen erfahren auch psychiatrische Patienten – wie der Rest der dänischen Bevölkerung – derzeit höhere Raten von Covid-19. Aber Covid-19-positive psychiatrische Patienten bleiben nur dann in psychiatrischen Abteilungen, wenn sie keine Symptome von Covid-19 haben, die mit einem Krankenhausaufenthalt auf somatischen Krankenhausstationen behandelt werden müssen, geschweige denn auf Intensivstationen."
Feigl-Ding mit harscher Kritik am SSI
Das Fazit: "Die psychiatrischen Stationen sehen aufgrund der allgemeinen Zunahme von Covid-19-Infizierten in Dänemark eine steigende Zahl von Covid-19-Patienten, aber keiner dieser Patienten muss in somatischen Stationen stationär behandelt werden."
Michael Bang Petersen, Professor und Leiter des Hope-Projekts an der Universität Aarhus, das die Einstellungen und das Verhalten der Dänen während der Corona-Epidemie misst, erläuterte ebenfalls die dänischen Zahlen. Er glaubt, dass mehr Nuancen in der Debatte nötig seien, sieht darin aber auch ein Indiz dafür, dass es in den USA eine polarisierte Debatte über das Coronavirus gebe. "Die überwiegende Mehrheit derer, die sich an der Debatte beteiligen, interessiert sich nicht für Dänemark. Es geht um die amerikanische Debatte, bei der ein Flügel eine Motivation hat, Dänemark zu nutzen, um zu sagen: 'Sehen Sie, wie falsch es läuft, wenn es geöffnet wird', zitiert TV2 Michael Bang Petersen.
Michael Bang Petersen hält es insbesondere für wichtig zu berücksichtigen, dass trotz hoher Infektionsraten weniger Intensivpatienten als zuvor stationär aufgenommen werden und dass ein zunehmender Anteil mit und nicht wegen des Coronavirus ins Krankenhaus eingeliefert wird.
Eric Feigl-Ding bleibt aber bei seiner Ansicht. In einem Kommentar an TV2 schrieb er: "SSI liefert fahrlässig Munition an Rechte, die Covid vernachlässigen und leugnen."

Wie verlässlich sind die Daten?
In der ganzen Debatte wird aber auch diskutiert, wie verlässlich die Daten und Grafiken von "Our World in Data" sind, die die genannten Experten bei Twitter verbreitet haben. Immerhin ist das Datenportal an der Universität Oxford angesiedelt.
Der dänische Politikwissenschaftler Michael Bang Petersen schrieb dazu auf Twitter, man müsse "äußerst vorsichtig" sein, wenn man Screenshots von "Our World in Data" teile. Auch er verweist auf den Unterschied zwischen "wegen" und "mit" Corona bei den Hospitalisierungen und Todesfällen.
Edouard Mathieu, Chef bei "Our World in Data" äußerte sich ebenfalls zu der Debatte um die dänischen Corona-Zahlen. Auf Twitter hob er hervor, dass die Zahlen, die das Portal nutzt, sich auf offizielle Daten bezögen. Zu der "wegen-oder-mit"-Unterscheidung kommentierte er: "Die dänischen nationalen Gesundheitsbehörden haben kürzlich berichtet, dass der Anteil der Patienten 'mit' COVID sowohl bei Krankenhausaufenthalten als auch bei Todesfällen erheblich zugenommen hat. Das Problem ist, dass sie diese Unterscheidung nur in schwer zu findenden Artikeln und PDF-Berichten deutlich machen."
Das offizielle Corona-Dashboard des SSI unterscheidet seinen Angaben nach aber nicht in diesen Kategorien. Dies ist tatsächlich der Fall. "Und so gelangen diese Daten – weil es die offiziellen Daten sind – in die Johns-Hopkins-Datenbank und damit in unsere Grafiken." Viele Menschen würden in das Dashboard gucken – und nicht in die Berichte der Gesundheitsbehörde, wo die Zahlen genauer aufgeschlüsselt werden.
Corona-Dashboard unterscheidet nicht
Mathieu betonte, dass er nicht in eine "richtige" oder "falsche" Zählung unterscheide oder dass Dänemark "gut" oder "schlecht" abschneide. "Ich sage, es ist leicht zu verstehen, dass viele Menschen verwirrt sind, wenn Behörden an einer Stelle offizielle Daten melden, aber an anderer Stelle sagen, dass diese Daten nicht gut sind."
Fazit: Dass die Infektionszahlen, Hospitalisierungen und Todesfälle in Dänemark steigen bzw. auf einem hohen Niveau sind, ist korrekt. Das geben auch die Grafiken des SSI her. Allerdings betont die Behörde, dass man hier zwischen "wegen" und "mit" Corona unterscheiden müsse. Sie unterstreichen, dass der Anteil derjenigen, die "wegen" Corona eingeliefert werden zurückgegangen sei. Die Lage auf den Intensivstationen ist deutlich entspannter. Da diese Unterscheidung aber nicht im Dashboard des SSI erfolgt, ist es möglich, diese Zahlen misszuverstehen. Ob Dänemarks Öffnungen richtig oder falsch waren, kann man mit Sicherheit wahrscheinlich erst in Zukunft sagen.
Weitere Quellen: "Berlingske", "Jyllands-Posten"