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M. Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier Blau wie die Hoffnung - warum das deutsche Trauma heute endet

Vor dem härtesten Viertelfinale aller Zeiten verbreitet Micky Beisenherz Optimismus: Wir schaffen das! Und wenn nicht, bleibt uns immerhin der italienische Autokorso erspart.

Wir schaffen das!

Im Jahr 2016 kein besonders vertrauensstiftender Anfangssatz, oder? Nein, wirklich. Wir haben keinen Grund zur Sorge. Aber ja doch. Ich kenne die deutsche Bilanz. Schlimmer ist nur die von VW. Noch kein Pflichtsieg gegen die Italiener bei EM- oder WM- Endrunden. Eine Serie, übler als "GZSZ". Doch was heißt das schon.

Im Grunde genommen nur, dass der Schlüssel zum deutschen Sieg darin liegt, diese vermaledeite Statistik nicht zu nah an sich heran zu lassen. Den Kopf auszuschalten. (Vielleicht sollte Löw Podolski in die Startelf nehmen.) Immer wieder dieser verdammte Kopf. Der hat aus Tormaschinen schon die größten Versager gemacht - und zurück. Hak nach bei Mario Gomez. An dem sollten wir uns aufrichten - hat er uns doch gezeigt, dass auch eine miese Serie nicht für immer hält.

Wer ist Mario Balotelli?

Mit dem heutigen Tag endet das Trauma, das mit dem 28.6.2012 seinen bisherigen Höhepunkt fand. Damals versaute ein gewisser Mario Balotelli mir den Geburtstag. Den kennt man heute nur noch von Twitter - oder der Seite "Fußballer, die den Swag aufdrehen".
Ein Doppelschlag und die EM war vorbei wie Bubble Tea. Damals machte der Bundestrainer noch den entscheidenden Fehler, den Trainer gerne mal aus Eitelkeit machen: das Besondere. Den cleveren Schachzug, bei dessen Gelingen der Coach als cleverer Stratege dasteht.
Im Falle von Löws Idee, ohne Not eine funktionierende Mannschaft umzustellen, um mit der überraschenden Hereinnahme von Toni Kroos Andrea Pirlo kaltzustellen... naja, Sie kennen ja das Ergebnis. Doch wofür sind Fehler da? Eben.

Micky Beisenherz: Sorry, ich bin privat hier

Mein Name ist Micky Beisenherz. In Castrop-Rauxel bin ich Weltstar. Woanders muss ich alles selbst bezahlen. Ich bin ein multimedialer (Ein-)gemischtwarenladen. Autor (Extra3, Dschungelcamp), Moderator (ZDF, NDR, ProSieben, ntv), Podcast-Host ("Apokalypse und Filterkaffee"), Gelegenheitskarikaturist. Es gibt Dinge, die mir auffallen. Mich teilweise sogar aufregen. Und da ständig die Impulskontrolle klemmt, müssen sie wohl raus. Mein religiöses Symbol ist das Fadenkreuz. Die Rasierklinge ist mein Dancefloor. Und soeben juckt es wieder in den Füßen.

Mittlerweile sind wir Weltmeister, und Jogi Löw wird kaum so dumm sein, noch einmal auf die Idee zu kommen, sich plötzlich nach dem Gegner zu richten. Warum auch. Löw trainiert die bislang beständigste und beste Mannschaft des Turniers - bei der, ganz nebenbei bemerkt, der ein oder andere Spieler noch gar nicht wirklich explodiert ist. Leroy Sané zum Beispiel durfte noch gar nicht ran, und von André Schürrle erhoffe ich mir genau die Wundertaten, die mich als Dortmunder Fan daran glauben lassen können, dass es nicht kompletter Wahnsinn ist, die 40 Millionen für Mkhitaryan nahezu komplett in diesen doch recht limitierten Spieler zu reinvestieren. Sorry, da ließ ich mich kurz gehen.

Klar, Mario Götze war bislang unauffälliger als das L in Błaszczykowski. Und Thomas Müller wird mit Interesse bei Lewandowski verfolgt haben, wie genau das mit dem Tor treffen noch mal gleich geht.

Die jüngste Mannschaft gegen die älteste

Wir haben mit Boateng DEN Spieler des Turniers in der Innenverteidigung und mit Joshua Kimmich deutet sich eine langfristige, offensivfreudige Lösung auf der hinteren rechten Seite an, die die alten Herren aus Italien auf Trab halten dürfte (es sei denn, Jogi vertraut auf den etwas graubrotigeren Höwedes). Nicht zu vergessen der ca. 72-jährige Schweinsteiger, der sich schon mal langsam für das Jahrhundertspiel warmblutet. Ohnehin, das Alter. Wenn die DFB-Elf heute Abend auf die Italiener trifft, dann ist das auch das Duell der jüngsten Mannschaft der EM gegen die älteste. Man könnte auch sagen: Die erfahrenste.

Aber dass die Alten den Jungen das Ergebnis versauen, das gilt zum Glück nur bei Volksabstimmungen. Und was sagen schon Statistiken. "Seit 1962 bei keinem Turnier gegen die Italiener gewonnen." Der FC Schalke hat seit 1958 keinen Meistertitel gewonnen und ist dennoch... halt, nein. Schlechtes Beispiel.

Italien kann jetzt auch Offensive

Klar, die Italiener sind keine Isländer. Dennoch darf man sie nicht unterschätzen. Allein schon deshalb, weil ihr Trainer Antonio Conte ihnen etwas beigebracht hat, das man von der Nazionale bislang nicht kannte: Das Offensivspiel. Das muss aber nicht zwingend von Nachteil sein, wenn sich plötzlich auch mal Räume auftun, wo früher der Gegner lebendig einbetoniert wurde.

Ja, nicht nur die Tifosi reiben sich gerade erstaunt die Augen und: Wofür ich die Italiener wirklich hasse ist, dass ich sie noch nicht mal mehr hassen kann. Schlimmer noch: Ich finde die regelrecht sympathisch!

Seitdem Typen wie Materazzi oder Gattuso die Elf verlassen haben, ist das Tor zu meiner Zuneigung weit geöffnet. Buffon, der schon mit Kaiser Augustus in die Grundschule gegangen ist, hat spätestens mit seiner kindlichen Freude über den ersten Vorrundensieg mein Herz gewonnen. Oder Chiellini, das Schienbein Gottes mit der Aura desjenigen, der in Bud-Spencer-Filmen immer als Erster auf die Fresse gekriegt hat.
Ich mag diese Elf. Und Conte, ihren Trainer. Trotzdem werden wir sie klar 2:0 schlagen.

Der Autokorso fällt aus

Was dann der härteste Halbfinaleinzug ever sein dürfte, während der (sehr) Semi-Finalist Portugal als Lotto Lothar des Weltfußballs vermutlich selbst am wenigsten weiß, wie sie es ohne einen einzigen Sieg über 90 Minuten dahin schaffen konnten.

Ja, wir werden das Trauma heute ablegen, woraufhin diese besorgniserregende Unterflaggung an deutschen Autos und Balkonen ein Ende haben dürfte. Übrigens, wer Optimismus lernen will, der sollte nie vergessen: Bernd Leno wärmt sich vor jedem Spiel auf.

Und eine Sache sollte uns tatsächlich hoffnungsvoll stimmen: Die Zahl der Arbeitslosen ist so tief wie seit 1991 nicht mehr. Gut, das hat jetzt nicht direkt mit der EM zu tun, aber: Ich wollte, dass sie etwas haben, worüber sie sich auch nach der Begegnung freuen können.

Nebenbei bemerkt, werde ich das Spiel heute Abend in der Pizzeria um die Ecke gucken. Seit Albanien ausgeschieden ist, hält die Belegschaft geschlossen zu den Deutschen. Amore.

P.S.: Sollten die Italiener tatsächlich wieder gewinnen: Dass sie keinen Autokorso hören, hat nix mit Respekt vor dem Verlierer zu tun - beim Fiat ist nur immer die Hupe kaputt. 

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