Charlie Chaplin präsentiert seinen Blockbuster "Goldrausch", während "Metropolis" gerade erst gedreht wird. Der neue Präsident heißt Hindenburg, und ein junger, etwas wirrer Popliterat präsentiert den kommenden Bestseller - "Mein Kampf". Um besser fassen zu können, wie lang 90 Jahre wirklich sind, muss man sich nur vor Augen führen, was 1925 so los war. Heute vor genau 90 Jahren wurde Omma Lore geboren. Omma. Da, wo ich herkomme, da spricht man das so: mit gefühlten drei M. Mein Vater. Mein Bruder. Oder ihre achtjährige Urenkelin, die Omma sonntags um sieben Uhr aus dem Bett schmeißt, um mit ihr Karten zu spielen. Was die - komplett verstrubbelt und ohne zu meckern - über sich ergehen lässt. Wahnsinn. Die Frau ist 90.
Bei jemandem, der in einem Mehrgenerationenhaushalt aufgewachsen ist, nehmen Großeltern eine Sonderstellung ein, sind pädagogisch und emotional auf Augenhöhe mit den eigenen Eltern. Die beide voll berufstätig waren und sich in diesem großen "die Waltons"-ähnlichen Haushalt voll auf eines verlassen konnten: Omma hat die beiden Jungs im Griff. Und das hat sie jetzt noch. Mit jeder Menge Wärme. Und einem Witz, der sie später zu einer Art Facebook-Star machen sollte (gut, ich habe das mit Zitaten und Fotos von ihr ein wenig forciert).
Omma ist der soziale Kitt- wir kleben an ihr
Dass Menschen in Fußgängerzonen spontan Selfies mit ihr machen wollen, ist zumindest nicht sehr gewöhnlich für Menschen ihres Alters. Von denen es in ihrem Freundeskreis niemanden mehr gibt. Maria hat vor zwei Jahren aufgegeben. Hilde vor zehn. Oppa schon 1989. Damit war das Kapitel Männer dann auch für immer erledigt. Mit 64. Jupp, der Gelegenheitsbesucher mit Hut und Fahrradkette in der Jacke, hatte sich zwischenzeitlich noch Hoffnungen gemacht - aber da ging nicht viel: "Jupp? Dem geb' ich was mit'm Baskettballknüppel." Wasauchimmer das ist. Omma Lore. Letzte ihrer Art. 1,55m kleine Omega-Frau der Generation Kittelschürze (bevor die Großeltern statt Hermann und Gisela bald irgendwann alle Justin und Shania heißen und Arschgeweih tragen). Weiße Haare, gut getaftet. Mit diesem typischen, klassischen Omma- Körper, der zu 95 Prozent aus Torso zu bestehen scheint, auf dünnen Piepen, die stets in ihren geliebten Romika Schlappen stecken. Als hätte Gott 54 Kilo bereits verbastelt und nur noch 1 Kilo für die Beinchen über. So etwas wird heute gar nicht mehr gebaut. Eine Erscheinung, wie die Castrop Rauxeler Variante von Queen Elizabeth - nur bedeutender. Für mich. Für uns. Für alle vier Generationen, die jetzt unter ihrem Dach wohnen. Davon ab bin ich mir sicher, dass man der Queen nicht ungestraft an ihrer Gumminase spielen kann. Dieser knorpellosen anatomischen Sensation, die bei mir durch schnelles Dranrumflitschen schon tausende Male die Stimmung gehoben hat.
Omma ist das Herz dieses vielköpfigen Wohnkörpers, der soziale Kitt. Wir kleben an ihr.
Sei vorsichtig. Nimm Pfeffer mit!
Auf ihrer Etage kommen alle zusammen - beim Frühstück mit der Familie, wenn sie dem 13-jährigen Urenkel nach der Schule Bratkartoffeln macht, oder wenn wir alle abends bei ihr in diesen schweren Sesseln in der Runde beisammen sitzen und Unsinn erzählen. So, wie letztens, als ich erzählte, dass ich noch nach Dortmund will und sie - ganz besorgte Löwin - mich anguckt: "Junge, so spät noch nach Dortmund? Sei vorsichtig. Nimm Pfeffer mit!" In der folgenden Diskussion mit meinem Vater, ob denn wohl grüner Pfeffer, schwarzer, gemahlen oder gleich mit der Mühle und dass es ja auch eigentlich Pfefferspray sein müsste, behielt sie argumentativ die Oberhand. "Wieso? Man kann doch auch Pfeffer nehmen?!" und macht eine Bewegung wie James Bond, wenn er einem Killer Sand in die Augen schleudert. Punkt für Lore.
Die Frau hat eine Spannkraft, eine geistige Wendigkeit, die ihresgleichen sucht. Dass der Körper das mit 90 nicht mehr ganz so leisten kann, nervt sie selbst am allermeisten. Doch das alte Luder ist zäh, hat schon mehr OPs, Krankheiten und Verletzungen hinter sich gelassen, als in jede Telenovela passt. Auch heute noch macht sie alle ihre Stunts selbst.
"Junge, guck mal, meine Hand. Dick wie ne Schildkröte. Die Finger - wie Mettwürste." Wenn Omma erzählt, wie sie wieder mal in der Wohnung gefallen ist, ist es wie das Leben selbst. Zum Heulen. Und zum Heulen komisch. Diese Frau ist sensationell witzig. Diese roten Bäckchen. Ihr dreckiges Lachen. Ein Gackern, irgendwo zwischen tropischem Vogel und den Aliens aus "Mars Attacks". Harharhar. Eine gewisse Leichtigkeit zu bewahren ist nicht einfach, wenn man innerhalb kurzer Zeit erst den Mann und dann ein erwachsenes Kind verliert. Ein nunmehr rund 25 Jahre währender Horror, den sich niemand vorstellen mag. Aber das Gefühl, jeden Tag gebraucht zu werden, ist der beste Antrieb den man haben kann. Und wie sie gebraucht wird. So sehr, dass jeder von uns mit wachsender Panik auf den Tag X blickt, der bei einer Person von neunzig Jahren eine Tatsache ist, die man mehr schlecht als recht verdrängen kann.
Ker, die spielt dem doch was vor!
Noch heute putzt Omma die Wohnung, wäscht allen die Wäsche, bügelt und kocht wie niemand sonst. Eine Lasagne, mit deren Kaloriengehalt man eine komplette Modelschule auf Normalgewicht heben könnte. So gut, dass mein koreanischer Kumpel Myung-Hyun damals immer ein Blech zu sich nach Hause genommen hat - dafür gab's im Gegenzug von seiner Mutter Kimchi, Bibimbap und Frühlingsrollen. Fairer Deal. Gastronomisch hat Omma alles drauf. Gut bürgerlich, italienisch, asiatisch. Geht alles. Die macht dir auch Nasi Goreng. Das einzige weltweit mit Salamischeiben drin ("musste weg"). Ihr verdanke ich legendäre Gespräche wie "Schmeckt das?" "Ja, super, Omma!" "Gut, weil... die Paprika war schon teilweise schlecht." Mahlzeit.
Während bei vielen schon die eigenen Eltern nicht wissen, was man beruflich macht oder was Facebook ist, kann man Omma mit allem kommen. Die weiß Bescheid. Über alles. Also, wirklich alles. Wie damals, als meine Mutter, Omma und ich im Wohnzimmer saßen und verstärkt lustvolles Stöhnen aus der Etage meines Bruders drang. Als sich das schließlich zu ekstatischem Schreien auswuchs, bemerkte ausgerechnet die Älteste in der Runde nur trocken in die peinlich berührte Stille hinein: „Ker, die spielt dem doch was vor. Was ein Gejaller.“ Es stimmte natürlich.
Feiert eure Großeltern. Lasst sie erzählen.
Diese herzensgute Frau hat in 90 Jahren laut eigener Aussage "nie mit jemandem Stress gehabt" und ist so mitfühlend, dass sie aus Solidarität selbst nichts isst, wenn Fips, der nichts vom Tisch bekommen darf, sie mit seinen Hundeaugen anguckt. Wenn wir Omma heute mit circa 60 Mann hochleben lassen, kommen außer der - Zitat - "buckligen Verwandtschaft" auch Freunde von mir. Nennen wir sie ruhig ihre Fans. Wie mein Kumpel Aziz, meine Freundin Steffie oder der bedauernswerte Marco, der damals hoch in ihr Wohnzimmer kommen sollte, weil mein Cousin Tömmes und ich dort in ihrem Beisein für nen Diskobesuch vorgetrunken haben. Ansatzlos empfing sie diesen ihr fremden jungen Hip Hopper mit den Worten "Hä? Was bist Du denn für ein Typ? Hau bloß ab - bevor ich Dir eine scheuer!" Einfach nur, weil wir sie zu unserer Belustigung darum gebeten hatten. Seinen entsetzten Gesichtsausdruck werde ich nie vergessen. Was haben wir gegeiert. Was haben wir uns schon gedrückt und geküsst.
Ich habe nie verstanden, wie respektlos meine Schulkameraden oder sogar deren Eltern ihre Großeltern teilweise behandelt haben. Wie unliebsamer Besuch, ja, Deppen, die man vor Fremden vorführen kann. Das fand ich schon als Kind beschämend. Eine Oma ist doch das Beste, was einem passieren kann. Eine zweite Mutter. Eine Seelsorgerin. Die emotionale Komfortzone. Liebe.
Wenn es im Verhältnis zu meiner Großmutter nur eine Sache gibt, die ich bedaure, dann, die Tatsache, dass meinem Nachwuchs wohl nicht das große Glück der Kinder meines Bruders vergönnt sein wird, so lange etwas von ihrer Urgroßmutter zu haben. Und das ist jammerschade. Das kann niemand bezahlen.
Feiert eure Großeltern. Jeden Tag. Besucht sie. Lasst sie erzählen. Hört zu. Sie sind das Beste, was euch passieren kann. Happy Birthday, Omma Lore.
Mach den Ramazotti auf, ich komme.
P.S.: Ja, ich hab noch Arbeit!