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ESC 2022 Pleiten, Pech und Lena-Syndrom: Das muss sich beim deutschen ESC ändern

Malik Harris zeigt beim ESC 2022 in Turin eine politische Botschaft
Undankbar war die Startnummer für den deutschen Startnummer Malik Harris, der direkt nach den Favoriten aus der Ukraine auf die Bühne kam. Sein Stück "Rockstar" fand nur wenig Anklang, Deutschland wurde Letzter. Harris selbst nutzte den Auftritt auch für eine politische Botschaft.
© Marco Bertorello / AFP
Nur sechs Punkte für Malik Harris: Der Frust über die erneute deutsche Pleite beim ESC ist groß. Doch das Scheitern hat System. Was sich jetzt dringend ändern muss.

Malik Harris wirkt gefasst, als er aus dem Pressezentrum in Turin kommt. Es ist kurz vor 2 Uhr am Sonntagmorgen. Gerade hat er in einer Live-Schalte mit Barbara Schöneberger über sein Abschneiden beim Eurovision Song Contest gesprochen, jetzt stellt er sich den Fragen von Journalisten. "Ich bin von meinem Ergebnis enttäuscht", sagt er. Woran es gelegen hat? Er hält kurz inne und sagt dann: "Ich weiß es gar nicht so genau. Der ESC folgt seinen eigenen Gesetzen." Ein bemerkenswerter Satz. Denn passender hätte er die Ursache für das Drama von Turin nicht beschreiben können.

Keine Punkte von den Jurys. Nur sechs Punkte aus dem Zuschauervoting. Das ist das magere Ergebnis von Harris an diesem 66. Eurovision Song Contest. Mal wieder ein Platz im Tabellenkeller für Deutschland und die Fortsetzung einer ganzen Reihe von Pleiten in den vergangenen zehn Jahren. Dabei traf der 24-Jährige die Töne besser als mancher Konkurrent, da sind sich viele einig. Ein unverdienter letzter Platz konstatieren Fans und Experten. Wie erklärt sich das erneute Scheitern?

Kein Glück bei ESC-Startnummer und Jury

Zum einen hatte Malik Harris kein Glück. Das fängt bei der Startnummer hinter einer Championsgruppe an. Nach Italien, Spanien, Niederlande und Ukraine wirkte die deutsche Nummer wie der Pausenfüller zum Erholen. Dann ist da das verflixte Votingsystem. Mehrmals ist Deutschland knapp aus der Punktwertung gefallen. Die Jurys aus Österreich und aus Australien sahen Harris auf dem 11. Rang. Die kroatischen Experten hatten ihn auf der 12 gerankt. Israel, Lettland und Spanien auf der 14. Und, das ist besonders hervorzuheben: Nur eine einzige Jury sah ihn auf dem letzten Platz (Finnland). Dass es dennoch null Punkte gab, ist Arithmetik. Nur die ersten zehn Plätze bekommen Punkte. Alle anderen gehen leer aus.

Doch der Hauptgrund für das erneute Scheitern ist, dass andere Länder den ESC besser verstehen. Und vieles besser machen. Es müssen mehrere Faktoren zusammenkommen, damit aus einem Beitrag eine gute Platzierung wird. Ein gefälliges Lied allein reicht nicht. Ein sympathischer Sänger auch nicht. Es braucht eine Idee, die beides trägt. Die muss Show bieten und gleichzeitig authentisch sein.

Andere machen es viel besser

Musterschüler für diese Herangehensweise sind die Schweden. Schon im dortigen Vorentscheid wird jeder Beitrag mit einer extra inszenierten Bühnenshow präsentiert. Beim Auftritt von Cornelia Jakobs wirkte vieles zufällig, doch in Wahrheit ist jeder Moment choreographiert. Das kostet viel Geld und Ressourcen. Doch der Aufwand ist nicht entscheidend, sondern die Kreativität. Selbst eine dreiminütige Handwaschung (Serbien) kann funktionieren und mit einem fünften Platz belohnt werden.

Ob der NDR das verstanden hat, bleibt auch nach vielen Fehlversuchen fraglich. Das schlechte Abschneiden von Harris sei unverständlich, heißt es aus der Delegation. "In Deutschland kam der Song im Radio und im Streaming gut an", sagte Delegationsleiterin Alexandra Wolfslast. Doch der ESC ist kein Radiocontest und kein Streamingwettbewerb, sondern eine Samstagabendshow. Wer reüssieren will, muss sich mit den Details des Wettbewerbs auseinandersetzen.

Es scheint, der deutsche ESC-Vorentscheid leidet am Lena-Syndrom. Der überraschende Sieg der damals 19-Jährigen 2010 scheint den Eindruck hinterlassen zu haben, dass nur eifrig nach einem Kandidaten oder einer Kandidatin gesucht werden müsse, dann klappt es mit dem Siegen schon. Das verkennt, dass Lena ein absolutes Ausnahmetalent war. Und ein riesiges Glück. Eines, das man vielleicht alle 20 Jahre hat.

Der NDR handelt zu bequem

Auch die Big-Five-Regel verführt offenbar zur Bequemlichkeit. Da man ohnehin in jedem Jahr fürs Finale gesetzt ist, muss man sich nicht sonderlich anstrengen. Zumal die Finalshows auch mit deutschen Beiträgen, die kaum in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden, erfolgreiche Quoten abliefern. Der Druck, etwas ändern zu müssen, ist überschaubar. Die Änderungen, die vorgenommen werden und wurden, funktionieren nicht. Deshalb wird immer wieder zum Altbewährten gegriffen, zum kleinsten Nenner. Ein Fehler.

Es braucht den vielbesagten Neuanfang. Dazu müsste sich der NDR einen Ruck geben und Menschen an einen runden Tisch holen, die den Wettbewerb kennen und verstehen. Fanvertreter, ehemalige Teilnehmer, Experten, Showmacher, Musikproduzenten, Kreative aus dem In- und Ausland. Eine Task-Force ESC, ausgestattet mit genug Ressourcen, um sich zwölf Monate auf diesen einen Tag im Jahr vorzubereiten.

"You can rise like a Phoenix” sang Conchita Wurst beim ESC 2014. Ein Satz, der auch auf den ESC zutrifft. Bestes Beispiel dafür ist Großbritannien. Nach vielen Horrorauftritten und miesen Platzierungen schaffte es die Briten in diesem Jahr mit Sam Ryder auf den zweiten Platz. Ein großer Erfolg und das Ergebnis von viel Arbeit und Herzblut. Doch es hat sich gelohnt.

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