Das Dorf Schuchuti könnte nicht friedlicher daliegen an diesem Morgen des orthodoxen Ostersonntags. Für April ist es erstaunlich warm, die Sonne fällt auf die Pfirsichbäume am Südhang. Im Schatten der Obstgärten haben die Bewohner Chatschapuri aufgedeckt, mit Käse überbackenes Brot, essen gefüllte Auberginen und trinken Wein aus einer Amphore. Am Horizont leuchten die Gletscher des Kaukasus. Ein Tag, der zum Müßiggang einlädt. Oder dazu, sich mit 400 bulligen Georgiern um einen Lederball zu prügeln. In wenigen Stunden wird Staub das Dorf einhüllen, Männer werden schreien, Handgelenke brechen, und ich werde zugeschwollen auf einem Strohballen liegen. Aber noch begrüßen sich die Leute mit Küssen auf die Wange, wünschen sich frohe Ostern, als wüssten sie nicht, dass dieser Tag alles andere als froh werden wird.
Angesichts der Brutalität könnte man sich fragen: Warum?
Das drohende Unheil heißt "Lelo". Eine georgische Version des Rugby, die seit Jahrhunderten in Schuchuti im Westen des Landes in seiner extremsten Form gespielt wird. Das obere Dorf kämpft gegen das untere. Die Teams versuchen, einen 16 Kilo schweren Lederball 200 Meter in die eigene Dorfhälfte zu tragen und einen Bach zu überqueren. Das gesamte Dorf dazwischen mit seinen Gärten, Straßen und Bäumen ist das Spielfeld. Weil sich kein Schiedsrichter trauen würde, hier eine Rote Karte zu zeigen, verzichtet man auf ihn und Regeln generell. Beim Lelo brechen Fensterscheiben, Holzzäune, Nasenbeine. Vor zwei Jahren starb ein Teilnehmer. But why? Könnte und sollte man sich angesichts dieser Brutalität fragen. Darauf bekommt man nur eine einzige Antwort: Weil es schon immer so war. Mir fällt auch kein sinnvoller Grund ein, warum ich mir diese institutionalisierte Knochenbrecherei gleich antun werde.
Sie ringen um jeden Meter: Lelo ist das härteste Spiel der Welt

Mittags betritt der Priester in seinem schwarzen Gewand den Garten. Er isst vom Chatschapuri, lobt die Köchin. Er trinkt vom Wein, die honigfarbene Flüssigkeit läuft ihm den Bart hinab auf den purpurnen Jesus, der vor seinem Bauch an einer Kette baumelt. Lelo (frei übersetzt: "entreißen") hat zwar einen heidnischen Ursprung, aber Weihnachten ja auch. Angeblich spielten es georgische Krieger schon vor 1000 Jahren zur Vorbereitung auf die Schlacht. Heute ist das Dorf dafür im ganzen Land bekannt. Sogar Ex-Präsident Michail Saakaschwili landete 2012 mit einem Helikopter hier, um das Spiel zu sehen. Georgien liegt an einem leicht zu vergessenden Teil der Erde, eingeklemmt zwischen Russland, dem Iran und der Türkei. Gegen alle drei musste Georgien in seiner Geschichte Krieg führen. Zuletzt 2008 gegen Russland. So verwundert es nicht, dass in Schuchuti am Dorfplatz neben der rot-weißen georgischen Flagge die blau-goldene Flagge der EU hängt. Von Europa versprechen sie sich hier Sicherheit, auch wenn das Schwarze Meer sie davon trennt. Ansonsten ist Georgien ein wenig wie eine kaukasische Version Italiens: viel Nationalstolz auf die leckeren Teigspeisen, malerische Landschaften und geisteskranke Autofahrer.
Es ist eben Tradition
Am Mittag füllen Männer aus beiden Dorfhälften den Ball gemeinsam mit Sägespänen, Sand und Wein, bis die Waage 16 Kilo anzeigt. Sie legen den Ball dem Priester vor die Füße, und der fragt den Ballmacher, warum sich die Männer töten wollen am heiligen Ostersonntag? Der Ballmacher antwortet, es sei die Tradition, und unterdrückt einen Schluckauf. Der Priester segnet ihn, den Ball und das Dorf. Dann stoßen sie mit Wein an. Egal, wen ich an diesem Tag frage, warum das Spiel immer noch so brutal sein muss, warum der Mensch das Bedürfnis nach Kampf hat, warum man dabei nicht zumindest Knieschoner tragen kann, dann antworten sie alle nur: Es ist eben Tradition. Was fast immer bedeutet, dass man nicht mehr genau weiß, warum man damit angefangen hat, aber wenig Lust verspürt, damit aufzuhören. Und kaum überraschend ist auch hier, wie fast überall auf der Welt, das Ausleben der Tradition mit starkem Alkoholkonsum verbunden.
Der Priester trägt den Ball über die Straße, das Dorf folgt ihm. Dann wirft er mir das Leder zu, und ich zucke zusammen, als mir die 16 Kilo durch die Hände rutschen und in meinem Unterleib einschlagen, nur mein Gürtel verhindert Schlimmeres. Ich spüre, dass ich mir das mit der Teilnahme wirklich überlegen sollte. Beim Völkerball in der Schule wurde ich aus dem letzten Drittel gewählt. Geprügelt habe ich mich nur einmal in meinem Leben: in der dritten Klasse mit Larissa. Am Ende lag ich gedemütigt mit zwei blauen Flecken vor dem Klettergerüst.
Bis am frühen Abend der Lelo-Kampf beginnen wird, legt der Priester den Ball in der Dorfkirche ab. Hier wird er ruhen. Ein Junge betritt die Kirche und bekreuzigt sich. Das Polohemd klebt an seinem massiven Körper. Er heißt Mate Dolidze und ist 19 Jahre alt. Vor zwei Jahren starb sein Vater Alexandre an einem Asthmaanfall. Er war ein bekannter Lelo-Spieler. Wenn Mates Team aus dem Unterdorf heute gewinnt, darf er den Spielball auf das Grab seines Vaters legen. Der Priester umarmt ihn und wünscht ihm Glück. Mate berührt den Ball, senkt den Kopf und küsst die Ikone von Sankt Georg an der Wand. "Wofür hast du gebetet?", frage ich. "Frieden und den Sieg", sagt er. "Was wünscht du dir mehr?" Er überlegt: "Frieden, natürlich."
Die Schlacht von Schuchuti beginnt
Um kurz vor fünf marschieren die Teams von Semo-Schuchuti und Kwemo-Schuchuti aufeinander zu. Die Männer, die teils Cousins oder Brüder sind, schimpfen sich jetzt Feiglinge und Hurensöhne. Kinder klettern auf die Friedhofsmauern, um besser sehen zu können. Rund 5000 Besucher aus dem ganzen Land, Journalisten und ein paar kiffende Backpacker stehen am Straßenrand, filmen mit dem Handy und schließen Wetten ab. Das Oberdorf sei der Favorit, heißt es. Ein Alter sagt mir, sie hätten zwar nicht die stärksten Männer, aber dafür die schlaueren. Sein Freund neben ihm sagt, es sei andersherum.
Ein Mann mit offenem Militärhemd und rotem Kopf tritt vor die Menge und lädt seine Schrotflinte durch. Der Priester hält den Ball in die Luft, dann wirft er ihn in die Menge, die Flinte knallt, Lelo beginnt. Staub wirbelt auf, als die etwa 400 Männer aufeinanderstoßen. Die Jungen und Mutigen stürzen dem Ball hinterher und boxen ihre Konkurrenten mit Leberschlägen aus dem Weg. Um den Menschenhaufen bildet sich ein Ring, der versucht, das gegnerische Team wegzuschieben. Ich sehe Mate, wie er sich zum Ball gräbt. Die ersten Verletzten taumeln aus dem Kreis und schnappen nach Luft. Ein Mann spuckt Blut auf den Boden und läuft dann ins Gedränge zurück.
Die Meute und ich ein Teil von ihr
Ich habe beschlossen, den Underdogs aus dem Unterdorf zu helfen. Dem Team, für das auch Mate kämpft. Und wenn ich diesen Scheiß schon mitmache, dann will ich den Ball zumindest berühren. Ich dränge mich nach vorn in den inneren Kreis, rieche Schweiß, kriege kaum noch Luft, vor mir stolpern ein paar Männer über einen Strohballen. Plötzlich kommt der Ball frei, ich spüre das warme Leder an meinen Fingerspitzen, dann drücken mich mindestens 100 Kilo georgisches Menschenfleisch nach unten. Mein Gesicht wird in den Strohballen gepresst. Ich ahne, was als Nächstes passiert. Ich bin allergisch gegen nahezu jeden Halm, der aus dem Boden wächst, Stroh und Gräser sind besonders schlimm. Meine Augen jucken, Schleim läuft mir aus der Nase, ich sehe fast nichts mehr. Auch weil immer noch Georgier auf mir liegen. Dann zieht mich jemand am Bein aus der Menge. Ein älterer Mann setzt mich unter einen Baum, kippt mir Wasser ins Gesicht und fragt: "You okay?". Zur Antwort niese ich ihm ins Gesicht. "Just, äh, Heuschnupfen", sage ich und reibe mir die Augen. Er scheint mich zu verstehen und reicht mir sein gebrauchtes Taschentuch.

Das Semo-Team hat die Schlacht am Strohballen gewonnen und drückt mit dem Ball den Hügel hinauf. Sie erreichen einen Gartenzaun. Die Bewohnerin versucht, die Menge zu vertreiben, aber Lelo kennt keine Gnade für materielle Werte. Das Blech bricht, die Spieler trampeln durch das Blumenbeet.
Nach zwei Stunden Schlacht hat sich das Team von Kwemo ausgedünnt. Ein Mann hält sich die umgeknickte Hand, ein anderer humpelt mit Nasenbluten zum Krankenwagen, der am Straßenrand parkt. Die Oberdörfler erreichen mit dem Ball die Ziellinie am Fluss. Ein paar Kwemos ohne Bartwuchs, die juvenile Reserve des Unterdorfes, stellt sich ihnen entgegen, aber sie werden die Uferböschung heruntergetrieben. Mit ihnen auch der völlig verschwitzte Mate, der bis zum Schluss durchgehalten hat. Dornen schneiden seine Handflächen auf, und er fällt ins Wasser. Ein Oberdörfler hievt den Ball den Uferhang hoch, dann brüllt er einen kehligen Siegesschrei in die Luft.
Männer, die sich gerade noch im Schwitzkasten hielten, küssen sich nun auf ihre staubigen Wangen. Das siegreiche Semo-Team zieht jubelnd durch das Dorf. Ich sitze immer noch kraftlos auf dem Boden und schaffe es nicht mal, mir eine Zigarette anzustecken. Das Dorf applaudiert seinen Gladiatoren, die den Ball zum Friedhof tragen. Dort legen sie ihn auf das Grab eines Mannes namens Vitali, der vor zwei Jahren noch für Semo spielte, bis er an einem Herzinfarkt starb.
Auf dem Friedhof werden die Dorfbewohner bis in die Nacht sitzen, Wein trinken und gekochte Eier essen. Die Alten werden Geschichten von früher erzählen, als Lelo natürlich noch viel brutaler war, und die Jungen werden irgendwann abhauen, um Shisha zu rauchen. Ich sehe Mate, wie er in der Ecke des Friedhofs steht. Er sei nicht traurig, sagt er. Aber ich sehe, wie rot seine Augen sind. Er verabschiedet sich, um allein zum Grab seines Vaters den Hang hochzulaufen. Die Sonne verschwindet hinter den Hügeln, und mit der Nacht kommt der Frieden zurück nach Schuchuti, zumindest für ein Jahr.
Diese Geschichte stammt aus der zwölften Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.