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"Jägermeister will be your doctor" Saunamarathon in Estland: Wo 800 Wahnsinnige Hitze, Kälte und Alkohol trotzen

Eine Sauna in Estland
Diese Sauna wurde von den Teilnehmern zur Lieblingssauna gewählt. Vielleicht lag das am Glühwein, mit dem der Besitzer uns bestach.
© Fabian Weiss
Beim "Europäischen Saunamarathon" schließen sich Alkohol und Ehrgeiz keinesfalls aus. Das ist verrückt – und gut für die Völkerverständigung.
Von Frederik Seeler

Eines vorab. Womit der Saunamarathon wenig zu tun hat: saunieren. Womit der Saunamarathon viel zu tun hat: barfuß durch den Schnee laufen, sich an schwitzenden Körpern vorbeidrücken, Jägermeister trinken, im Auto über die estnische Landstraße jagen, Autos aus dem Straßengraben schieben, Birkenzweige auf den Rücken geschlagen bekommen, sich in den Armen liegen und Volkslieder brummen, Estinnen heimlich auf den Busen gucken, bemerken, wie die Estinnen zurückgucken, in Eiswasser springen, dabei möglichst lässig wirken, frieren, frieren, frieren, mehr Jägermeister trinken, sich in den Bademantel wickeln, genießen, dass man nicht allein ist.

Wo das geht? Die Kleinstadt Otepää liegt im Süden Estlands. Dort ist die Saunakultur so alt, dass niemand weiß, wie alt genau. Weil die Welt aber nur finnische Saunen kennt, gründeten ein paar Esten vor zehn Jahren den "Europäischen Saunamarathon". Auch, um Touristen in den Süden zu locken, wo sie auf Langlaufskiern durch die verschneiten Wälder gleiten können. Für den Marathon reisen jährlich rund zweihundert Teams an. Nach dem Start fahren sie mit dem Auto durchs Umland und schwitzen sich durch verschiedene Saunen. Viele davon gehören Privatpersonen, die sie für den Marathon zur Verfügung stellen. Ich wollte ein Team begleiten. In warmer Daunenjacke daneben stehen, während die anderen in Eislöcher springen, um Extrapunkte zu sammeln. Ich fragte auf der Facebook-Seite der Veranstaltung, ob ich jemanden begleiten könne. Ein Lette namens Oskars antwortete, er bräuchte keinen Begleiter, aber ein viertes Teammitglied. Ich sagte zu und wusste, dass ich es bereuen würde.

Die Kälte ist so stechend, dass ich weinen möchte

Jetzt stehen wir im Schneematsch im Stadtzentrum Otepääs, ziehen trotz der null Grad Wollpullover und Lederstiefel aus und Badehose und Flip-Flops an. Die Kälte ist so stechend, dass ich weinen möchte. Heute sei es ungewöhnlich mild, sagt Oskars. Er ist 25, trägt kurz geschorenes blondes Haar, dient als Soldat in der lettischen Armee und sitzt deswegen viel in Kasernen rum. Sein Kindheitsfreund Martins steuert in einer Glasfaserfabrik einen Greifarm. Oskars sagt in Netflix-Englisch: "I am not a huge fan of sauna." Aber nach einer monotonen Arbeitswoche ins Eiswasser zu springen klingt besser, als im Dorf herumzusitzen und auf den Frühling zu warten. Deswegen sind sie in ihren Audi-Kombi gestiegen und über die Grenze nach Otepää geruckelt. Auch um den Esten zu zeigen, wer im Baltikum am meisten Kälte abkann.

Joko und Klaas auf dem Cover der JWD, Ausgabe 10
© Sebastian Mowka

Ein Artikel aus ...

... JWD. Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Die zehnte Ausgabe gibt es ab 28. Februar am Kiosk – oder hier.

Estland ist der Streber unter den drei baltischen Ländern. Schon vor dem EU-Beitritt haben sie in Internetleitungen investiert und an Schulen Informatik unterrichtet. Tallinn hat eine der höchsten Start-up-Dichten Europas, die Bürger können ihr Parlament online wählen, und selbst auf dem Land empfängt mein Handy 4G-Netz. Außerdem haben ein paar Esten Skype erfunden, und darauf ist das Land so stolz, dass man die Skype-Anrufmelodie problemlos zur Nationalhymne erklären könnte. "Fuck Skype", sagt mein lettischer Teamkollege Martins. "Facebook Messenger is better."

Sauna Basics: Wenn nix mehr hilft, hilft Jägermeister

Martins ist schon ein bisschen angetrunken und flirtet mit allem, was einen Bikini trägt. Oskars ist ehrgeizig und will mindestens Erster werden. Er sagt, er werde Martins mit einer Heißluftpistole Badelatschen an die Schläfe kleben – als Scheuklappen. Oskars’ Cousin muss das Teamauto fahren, darf kein Bier trinken und schweigt aus Missmut. Ich bin eine norddeutsche Kartoffel, die mediterranes Klima schätzt. Sie sollen den Doktor rufen, falls ich gleich am Start umkippe, sage ich. Martins schaut mich an, zieht eine smaragdgrüne Flasche aus seiner Bademanteltasche und sagt: "Jägermeister will be your doctor."

Wir stapfen durch den Schnee zum Start auf dem Rathausplatz. Der knirscht zwischen Flip-Flop und Fußsohle. Die Luft riecht nach Glühwein. Ein paar Saunen dampfen am Ende des Platzes vor sich hin, bereit für unsere durchgefrorenen Leiber. Fast alle Teams sind verkleidet. Ein Japaner tritt im Lendenschurz an, ein finnisches Team trägt Ärztekittel. Knapp 800 Teilnehmer sind angereist; die meisten aus dem Baltikum, aber auch ein paar Russen, Neuseeländer, Mexikaner, Briten. Die meisten arbeiten in den Start-ups in Tallinn oder studieren in Estland. Der Moderator trötet das Startzeichen ins Megafon. Wir laufen zum Audi und fahren über die vereiste Dorfstraße zur ersten Sauna. Unsere Taktik: zuerst in die Sauna, die am weitesten von der Stadt entfernt liegt, und dann alle Saunen auf dem Rückweg abklappern. 19 sind es insgesamt. Mindestens drei Minuten müssen wir in jeder verbringen. Am Autofenster flattert die lettisch-rot-weiße Flagge, auf der Rückbank nuckeln wir am Jägermeister und spülen mit Bier nach. Alkohol und Ehrgeiz schließen sich nicht aus in diesem Teil der Erde.

Der Fotograf folgt uns im BMW-Mietwagen. Als wir auf einen Waldweg abbiegen, gerät er ins Schlittern und landet im zugeschneiten Straßengraben. Wir versuchen zu viert das Auto zurück auf die Straße zu schieben. Schnee fällt auf unsere unterkühlten Körper. Wir drohen k. o. zu gehen, noch vor der ersten Sauna. Plötzlich halten zwei VW-Busse neben uns. Ein Dutzend Esten springt raus, auch sie nur in Bademänteln und Crocs-Sandalen. Ihre Beine versinken bis zu den Waden im Schnee. Wir schieben zusammen, die Vorderreifen greifen, das Auto rollt zurück auf die Straße. Wir versprechen den Helfern Freibier. Die winken ab. Esten helfen Letten und Deutschen, ist doch klar. Streber.

Die Rauchsauna ist Unesco-Weltkulturerbe

Wenige Minuten später erreichen wir ein Bauernhaus. Die Sauna dort ist nicht mehr als ein Bretterschuppen, genagelt an eine Hauswand. Früher zimmerten die estnischen Bauern zuerst die Sauna und danach ihr Haus, heißt es. Sie zündeten Holz im Ofen an und qualmten die Sauna voll, um Schinken und Heringe darin zu räuchern. Dann ließen sie den Rauch durch die Tür abziehen und saunierten  in der aufgeheizten Hütte. In der Sauna wurden Kinder geboren und die Toten gewaschen, weil es hier auch im Winter warmes Wasser gab. Die Unesco erklärte die Rauchsauna 2014 zum Weltkulturerbe; zusammen mit ungesäuertem Fladenbrot aus Armenien und der usbekischen Kunst, Witze zu erzählen.

Wir betreten die Holzschuppen-Sauna. In der Mitte dampft der Ofen. Darum stehen zehn Esten in Bikinis und Badehosen, schwitzen und schweigen. Ein Mann mit Holzfällerbart und Speedo-Badehose kippt einen halben Eimer Wasser auf die heißen Steine, sodass die Letten und ich uns die Hände vors Gesicht halten, weil die Luft so brennt. Wasser rinnt meinen Arm herunter, ich sage, dass ich noch nie so viel geschwitzt habe, aber der bärtige Este korrigiert mich: das sei kein Schweiß. Wenn die heiß-feuchte Luft des Aufgusses auf die kalte Haut trifft, kondensiere das Wasser. Ich nicke. Wer sich fragt, was der Sinn des Homo sapiens im Universum ist, sollte sich bewusst machen, dass der Mensch genauso beschlägt wie ein Badezimmerspiegel.

Ich erzähle, dass in Deutschland alle nackt in der Sauna sitzen. Der Este lacht. "Different culture", sagt er. Dann nimmt er Birkenzweige und peitscht sie seiner Nachbarin so lange auf den Rücken, bis rote Striemen auf ihrer Haut glühen. Das öffne die Poren, sagt er. "Willst du auch?" Different culture, denke ich, und drehe ihm meinen Rücken zu.

Das Beste zum Schluss: Whirlpool, Wärme und schöne Mexikanerinnen

Wir fahren weiter, die nächste Sauna liegt an einem See. Davor hat der Besitzer einen Whirlpool aus Holz gezimmert. Ein Feuer erhitzt das Wasser auf 38 Grad.  Wir springen erst ins eiskalte Seewasser, dann watscheln wir zitternd zum Whirlpool und gleiten ins heiße Wasser. Meinen Körper durchfährt eine embryonale Wärme. Der Besitzer reicht uns Dosenbier und Bratwurst. "Wollen wir nicht einfach hierbleiben?", frage ich. "Scheiß auf den Marathon." Die anderen nicken. Nur der Fahrer, der nicht trinken darf, schaut etwas unglücklich. Wir stimmen ab. 2:2. Oskars unterstützt seinen nüchternen Cousin. Martins stimmt für meinen Whirlpool-Plan. Hauptsächlich, weil gerade zwei Mexikanerinnen im Bikini aus der Sauna kommen und auch in die Holzwanne steigen wollen. "Let’s go", sagt Oskars. Wir gehorchen und hieven uns über den Beckenrand, unsere Körper dampfen. Martins wirft den Mexikanerinnen Handküsse zu. Die winken zurück. Dann klappt die Autotür zu.

Die Jägermeisterflasche ist leer und auch die Wodkaflasche, die wir gekauft haben. Martins holt eine Tupperdose mit kleinen grünen Knollen hervor. Er nimmt eine halb leere Cola-Dose, sticht Löcher ins Aluminium, legt das Gras auf die Dosenöffnung, zündet es an, zieht daran. "My travelbong", sagt er und bietet mir einen Zug an. Mein Kreislauf rät mir, höflich "nein, danke" zu sagen.

Nach der letzten Sauna haben wir noch 15 Minuten, um das Ziel zu erreichen. Nur wer bis 17.30 Uhr am Sport­center auscheckt, hat eine Chance auf den Titel. Oskars verkündet: Ab sofort no smoking, no drinking. Wir brettern über die Landstraße. Im Radio läuft "The Final Countdown". Wir kennen nur den Refrain, aber singen den umso lauter. Martins schläft. Er hatte ein paar Züge zu viel aus der Travelbong.

Wären wir mal im Whirlpool geblieben

Wir erreichen das Sportcenter und sehen den Zieleinlauf auf dem Hügel. Nur noch vier Minuten, und wir müssen vorher noch einen Parkplatz finden. Martins schreckt hoch und, als wolle er seine Breitheit wiedergutmachen, springt aus dem Auto und rennt oberkörperfrei und nur in Crocs den Hügel hoch. Wir parken und laufen hinterher. Wir rennen, rutschen, ächzen, fluchen. Um 17.29 Uhr stolpern wir ins Ziel. Der Moderator schreit durchs Megafon. Nur Martins fehlt. Er hat das elektronische Armband, um uns auszuchecken. 17.30 Uhr. Ende.

Martins torkelt aus der Menge auf uns zu. "Easy", sagt er, er sei seit drei  Minuten hier. Wir umarmen ihn. Aber hat er uns auch ausgecheckt? Oh. Oskars sagt: Nicht so schlimm. Ich sage: Wären wir mal im Whirlpool geblieben. Martins fragt: Wo sind die Mexikanerinnen?

Diese Geschichte stammt aus der zehnten Ausgabe von JWD – Joko Winterscheidts Druckerzeugnis. Zu kaufen auch hier.

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