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Tierschutz Von der Industrie aussortiert, als Schmuse-Partner begehrt: Warum Menschen mit Kühen kuscheln

Ein Mädchen kuschelt mit einer Kuh.
Unsere Reporterin mit ihrer Patenkuh Bowie
© Emily Linow
Zu klein, zu groß, die Ohren schief: eigentlich sollten sie alle nicht mehr leben. Auf dem Hof Wilde Hilde in Niedersachen finden viele gerettete Nutztiere ihr letztes Zuhause. Rinder und Kälber, die gerade noch gut genug für den Schlachter waren, sind nun heiß begehrt – als Kuschel-Partner. Unsere Reporterin hat es getestet.

Bowies neues Zuhause ist ein Paradies. Viel Grün. Weite. Natur. Es riecht nach Landluft, frischem Gras und Dung, hier im Süden Niedersachsens. Die Freiheit endet dort, wo die Zäune beginnen, die der Rinderdame mit den kurzen Hörnern und einer Schulterhöhe von etwas mehr als 1,30 Metern ihre Grenzen aufzeigen. Unter dem glänzenden rotbraunen Fell, das der Farbe von Eichenblättern im Herbst gleicht, steckt ein kleines Kraftpaket. Zu klein, um leben zu dürfen, entschied ihr früherer Besitzer. Zu stark, um nicht leben zu dürfen, entschied Bowies heutige Besitzerin, die das Rind vor dem Gang zum Schlachter bewahrte.  

Begrüßungs-Gebell von zwei-, drei- und vierbeinigen Hunden

Auf dem Lebenshof Wilde Hilde ist es nicht so entscheidend, wie groß oder klein ein Tier ist, wie gesund oder krank oder wie viele Gliedmaßen es hat. Der Hof liegt unscheinbar in einem kleinen Dorf und unterscheidet sich von außen kaum von den anderen Backsteinhäusern. Beim Betreten des Geländes ertönt zur Begrüßung Gebell von zwei-, drei- und vierbeinigen Hunden sowie das Schnarchen von Hofschwein Leo, der gegenüber der Eingangspforte im Stroh schläft.

Der kleine Hofplatz ist umgeben von Ställen, in denen unter anderem gerettete Mastschweine unterkommen. Im Hauptgebäude befinden sich Gäste- und Arbeitszimmer und eine Küche. Direkt hinter den Ställen liegt eine selten befahrene einspurige Straße. An sie grenzen die ersten Weiden des Vereins, der den Hof betreibt.

Drei eingezäunte Wiesen, an einer Seite von Bäumen begrenzt, ziehen sich einen kleinen Hang hinauf. Die anderen Weiden, die zum Lebenshof gehören, liegen wenige Minuten mit dem Auto entfernt auch an Hügelseiten. Der Lebenshof Wilde Hilde beherbergt zurzeit 91 Rinder, 10 Schweine, 13 Schafe, 2 Pferde, 5 Gänse, Hühner, Ziegen und Hunde. Jedes Tier mit seiner eigenen Geschichte darf hier zu Ende leben. Der zugehörige Verein "White Paw Organisation e.V." begann 2013 mit der Rettung von Nutztieren vor einem Leben in der Industrie. Bei vielen war es die Rettung vor der Schlachtung.

"Kuhscheln" bis in den Schlaf

Melanie Vogelei, Leiterin des Lebenshofes, ist eine aufgeschlossene und freundliche Frau. Ihr Lächeln füllt ihr ganzes Gesicht. Die gebräunte Haut zeugt von der vielen Arbeit in der Sonne und von der Herkunft der gebürtigen Spanierin. Ihr langes Haar trägt sie zu einem Zopf gebunden. Praktisch muss es sein, wenn man mit Tieren arbeitet.

Eine Frau streichelt eine Kuh
Das "Kuhscheln" ist auch für Melanie Vogelei immer wieder schön
© Emily Linow

Regelmäßig ist Melanie mit Besuchern auf den Weiden unterwegs. Tierpaten, interessierte Großstädter, Aktivisten. Ihre Motive sind der Hofchefin egal, sie alle bekommen dieselbe Führung, dieselbe Chance den Tieren ganz nah zu kommen. Schon am Rande der Weide beschreibt Melanie ihren Lieblingsmoment ihrer täglichen Arbeit und der Besucherführungen: "Wenn die Kühe nicht hier vorne stehen, sondern weiter hinten im Waldstück und ich sie rufe, galoppieren sie hier herunter", erklärt Melanie. Sie lächelt, hebt ihren kräftigen Arm und zeigt in Richtung der wenig entfernt stehenden Bäume. "Wenn diese Tiere dann so auf einen zu gerannt kommen und die Erde anfängt zu beben – da hat schon so manch ein Besucher feuchte Augen bekommen."

An diesem Tag stehen die Kühe in der Nähe des Gatters, und die große Weide muss nicht lange überquert werden, bis die ersten Tiere in Sicht sind. Die Aufmerksamkeit richtet sich unter anderem auf Klein-Bowie. Sie liegt auf der Wiese und kaut. Die ihr hingehaltene Hand beäugt sie kurz mit ihren dunklen Augen, bevor sie zu einer feuchten Begrüßung ansetzt: Mit der rauen Zunge schleckt sie über die Handinnenfläche, eine Liebkosung wie mit nassem Schmirgelpapier. Ihr braunes Fell ist warm und schmiegt sich an die Finger. Die Halsmuskeln des Rindes sind beim Streicheln deutlich zu spüren.

Bowie strahlt Ruhe aus und verbreitet ein Gefühl von Geborgenheit. Ein Blick in die Hände zeigt, wie schmutzig und staubig das sauber wirkende Fell ist: Sie sind schwarz und riechen nach Waldboden, Gras und Kuh. Nach einem kurzen Moment des "Kuhschelns", wie Melanie Vogelei das Kuscheln mit einer Kuh nennt, schließt Bowie ihre Augen und schläft – eingerollt wie ein Hund – ein.

Eine Kuh schläft.
Bowie genießt die Streicheleinheiten und schnarcht leise
© Emily Linow

Den Schlachter vermöbelt

Hendrik wird drei Monate nach seiner Geburt von seiner Mutter getrennt. Das ist Alltag in der Milchindustrie – für Mutter und Kalb ein Schock. Mit anderen Kälbern gemeinsam kommt er in einen anderen Stall. Hier wird er gemästet und soll schnellstmöglich ein hohes Gewicht erreichen. Fünf Monate später wird er mit vielen anderen jungen Rindern gemeinsam zu einem Schlachter gebracht. Er ist erst acht Monate alt, als er an die vielen anderen Rinder gedrängt, seine Lisbeth kennenlernt. Der erdbodenbraune Ochse mit dem weißen Fleck auf dem Kopf und die wolkengleich weiße Dame ahnen nicht, dass sie bald für den Fleischkonsum geschlachtet werden sollen.

Ohne das Vorhaben, ein Rind zu retten, besucht Melanie Vogelei nur ein paar Tage nach der Anlieferung von Hendrik den Schlachter, um eine Kuh für einen anderen Verein anzuschauen. Dabei entdeckt sie Lisbeth. Lisbeth hat ein zu klein geratenes Ohr und eine schiefe Schnute – ein so besonderes Rind kann Melanie nicht sterben lassen. Einige Tage später kehrt sie mit einem Hänger zurück, um Lisbeth abzuholen. Da rastet Hendrik aus. Er tritt um sich, vermöbelt den Schlachter und tut alles, um in Lisbeths Nähe zu bleiben. Seine Liebe zu ihr sorgt dafür, dass Melanie kurzerhand beschließt, auch diesem wildgewordenen Rind eine bessere Zukunft zu schenken. 

Die Tücken des "Kuhschelns"

Heute stehen Hendrik und Lisbeth zusammen auf einer der Weiden des Lebenshofs Wilde Hilde und sind noch immer unzertrennlich. Nur Menschen gegenüber sind sie etwas skeptisch. Sie beobachten erstmal aus der Ferne, wer da auf der Weide steht, bevor sie sich in die Nähe der Fremden trauen. Ob sie sich dann noch anfassen lassen, hängt ganz von den Personen ab.

Da sind sie nicht die Einzigen. Nicht jedes Rind mag "gekuhschelt" werden, die Paarhufer zeigen keine automatische Dankbarkeit für ihre Rettung. Melanie erzählt von Mia, von der sie nach der Rettung angegangen wurde und die mit einem Tritt nur knapp Melanies Kiefer verfehlt und stattdessen die Schulter getroffen hat. Und Runaway, der große kohlenschwarze Ochse, der sie mit dem Rücken an die Wand trieb, wütend schnaufend auf sie zu rannte und seine Hörner rechts und links neben ihrem Körper in die Wand rammte. Beiden Tieren kommt Melanie nicht mehr zu nahe, dank des Sicherheitsabstands ist so etwas nicht wieder vorgekommen.

Andere hingegen liebten es, wenn man sich Zeit für sie nimmt und sie krault, sagt Melanie. Die beste Stelle, um eine Kuh zu streicheln, sei hinter dem Höcker auf ihrem Kopf. Der Höcker, aus dem seitlich die Hörner herauskommen. Es ist ein Fleck ihres Körpers, den die Kühe nicht gut selbst erreichen könnten, erklärt Melanie. Respekt und Vorsicht seien beim Kraulen aber angebracht, um keinen Hieb mit dem Horn abzukriegen. Denn nervt eine Fliege das Rind, dann hat das Verscheuchen dieses Störenfrieds mit dem Kopf Priorität – ohne Rücksicht auf Verluste. Wer da im Weg steht, hat Pech gehabt.

EIn Rind wird am Kopf gestreichelt.
Hier wird genossen: Melanie hat genau den richtigen Punkt zum Streicheln gefunden
© Emily Linow

Die Realität nicht aus den Augen verlieren

Melanie Vogelei und ihr Verein können nicht jedes Tier vor dem Schlachter bewahren. "Wir müssen realistisch sein: Es gibt Menschen, die sagen, die Tiere sind mir egal", erklärt sie. "Es wird immer Fleischesser geben." Darin sieht sie den Grund, warum die Welt nicht vegan werden wird – auch, wenn sie es sich selbst sehr wünschen würde. Es ginge dennoch besser: "Aber diese Menschen sollten wenig und das gute Fleisch essen." Dabei geht es um das Leben vor der Tötung, denn letztere sei für alle Tiere gleich qualvoll – egal wie industriell und groß oder traditionell und klein der Schlachter sei.

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Für die Tierretterin ist das der Grund, warum ihre Arbeit immer wichtig bleiben wird. Sie kann nicht alle retten, das weiß sie. Aber diejenigen, die sie rettet, denen schenkt sie ein besseres Leben – überhaupt ein Leben. Es sei ihr total egal, was andere Menschen von ihrer Arbeit halten, sagt Melanie. Hier spielen die Tiere die größte Rolle und für sie mache es einen Unterschied.

Der Preis für ein Kälberleben

Gekuhschelt werden auch die kleinen Kälber, die noch nicht beim Lebenshof auf der Weide stehen können. Die fünf Babys stehen beim Zwischenhändler im Nachbardorf, mit dem Melanie häufig zusammenarbeitet. Von hier aus werden Rinder und andere Nutztiere weiterverkauft – meist an Schlachter oder Mastbetriebe. Während die wenigen Kälber, die diesem Schicksal entkommen, gestreichelt und fotografiert werden, fällt der Blick automatisch auf die vielen anderen Tiere, die hier noch warten: etliche Rinder, Schweine und Kälber, die nur wenige Monate alt sein können.

Auch Melanie schaut sich um. Sie schockt ihre Zuhörer, als sie erklärt, dass viele von diesen Tieren spätestens in drei oder vier Tagen tot seien. Alle anderen würden in die Mast gehen und in ein paar Monaten sterben. 8,50 Euro sei der Preis für ein Kalb, das das ganze Leben noch vor sich hat.

Wie man helfen kann

Ab 5 Euro im Monat kann beim Lebenshof Wilde Hilde eine Teilpatenschaft für ein Tier übernommen werden, so könne man den Hof am besten unterstützen, erklärt Melanie Vogelei. "Damit hat der Verein ein monatliches Budget zur Verfügung und kann planen. Die Patenschaft ist dabei eher sinnbildlich." Natürlich bekomme kein Tier weniger Essen als ein anderes, nur weil es weniger Paten habe. "Es kommt alles in einen Pott und davon wird alles bezahlt." Das Geld wird für Futter- und Tierarztkosten verwendet sowie für die Erweiterung des Hofes etwa mit neuen Ställen.

Eine große Überraschung

Eine Kuh kann gut 20 Jahre alt werden. Aber nicht in der Industrie. Frieda war acht Jahre alt, als sie auf dem Lebenshof Wilde Hilde einzog. Während der Rettung einer anderen Kuh wurde die kakaopulverbraun und weiß gescheckte Kuh entdeckt. Abgemagert wie sie war, kam sie zu Melanie und gab ihr ein "Küsschen". Frieda hatte ausgedient, was bedeutet, dass sie nicht mehr genug Milch gab und kein Kalb mehr gebären konnte. Eine gesunde Kuh, die aber für die Industrie unbrauchbar geworden war. Sie sollte sterben. Das konnte Melanie nicht zulassen, rettete kurzerhand auch Frieda und kümmerte sich um sie.

Doch Frieda nahm nicht zu. Wochenlang fraß sie nahrhaftes Futter, aber gewann kein Gramm Fett hinzu. Nur drei Monate, nachdem Frieda auf dem Hof eingezogen war, brachte sie dann den kleinen Kunibald zur Welt. Der ebenfalls gescheckte Frechdachs war eine Überraschung für alle Beteiligten. Kunibald ist das erste Baby, das Frieda nun großziehen darf, weil es ihr nicht weggenommen wird. Melanie Vogelei teilt regelmäßig Bilder und Videos auf Social Media. Der kleine Kunibald ist besonders beliebt.

Der Tierschutz als Lebensinhalt

Ohne die "White Paw Organisation e.V." und Melanie Vogelei wären alle Tiere des Lebenshofes heute nicht mehr am Leben. Die Spanierin ist mit ihrem ganzen Herzen bei der Sache und widmet sich nur noch den Tieren. Sie arbeitet ehrenamtlich, bezieht kein Gehalt und macht keinen Gewinn mit dem Lebenshof Wilde Hilde. Ihr Mehrwert ist die Zeit, die sie mit ihren Tieren verbringen darf und die Freude, ihnen das Leben gerettet zu haben. Sie freut sich auch über jeden Veganer, der ihren Hof besucht, und über jeden, der ihn als Veganer wieder verlässt. Melanie möchte aufklären: "Rinder, Schweine, Schafe und so weiter sind keine Nutztiere – sie wurden dazu degradiert."

Angefangen hat Melanie mit der Rettung von Katzen und Hunden. "Bis mir 2012 aufgefallen ist, dass Rinder, Schweine und so nichts anderes sind – nur in einer anderen Hülle", sagt sie. Für die Frau mit dem großen Herzen und der lauten Stimme sind es keine Nutztiere oder "anonym verpacktes Fleisch im Kühlregal", sondern vielfältige Persönlichkeiten, Freunde, Wegbegleiter und Sorgenkinder. Ihre Liebe zu den muhenden Wesen führte dazu, dass sie den Lebenshof Wilde Hilde gründete und die Tierschutzarbeit ganz zu ihrem Lebensinhalt machte.

Hinweis: Der Besuch des Lebenshofes hat vor dem Teil-Lockdown stattgefunden.

Weitere Informationen auf Lebenshof Wilde Hilde und White Paw Organisation e.V.

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