Katastrophe im Mittelmeer Bootsunglück mit hunderten Toten in Griechenland: Ein Versuch, die Tragödie zu rekonstruieren

Ein Boot gefüllt Menschen an Bord auf dem Meer nahe Griechenland
Eine Luftaufnahme zeigt das Boot mit hunderten Menschen an Bord. Wenig später kam es zum verheerenden Unglück in Griechenland.
© ANE Edition / Imago Images
Die Fahrt übers Mittelmeer nach Europa bezahlten offenbar hunderte Menschen mit ihrem Leben. Wie konnte es zu dem verheerenden Bootsunglück am Mittwoch in Griechenland kommen? Was bislang darüber bekannt ist.

Hunderte Menschen riskieren ihr Leben und setzen vor einigen Tagen von Libyen aus in See. Sie steigen auf ein marodes Fischerboot – mit dem Ziel Italien und der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Doch die meisten von ihnen werden nie ankommen: Das schwere Bootsunglück am Mittwochmorgen in Griechenland sorgt für Trauer und Entsetzen. Wie kam es zu dem verheerenden Unglück, das wohl hunderten Menschen das Leben kostete?

Offenbar bahnte sich die Tragödie bereits an. Die Aktivistin Nawal Soufi aus Italien hatte nach eigenen Angaben Kontakt zu Migranten auf dem Fischerboot. Demnach hätten sich am Dienstagmorgen mehrere Personen an Bord des Bootes bei ihr gemeldet und über die Notlage informiert, schreibt sie auf Facebook. Mithilfe einer Standortbestimmung eines Smartphones auf dem Boot habe Soufi den genauen Standort ermittelt und die zuständigen Behörden alarmiert.

Am Dienstag wurde schließlich die griechische Küstenwache von den Behörden in Italien über das rund 30 Meter lange, übervolle Boot südwestlich der Halbinsel Peloponnes in Kenntnis gesetzt. Daraufhin seien sofort Suchaktionen in den internationalen Gewässern losgegangen, heißt es in einer veröffentlichten Pressemeldung. Frontex habe den Fischkutter schließlich am Dienstagmittag aus der Luft gesichtet, teilte die Grenzschutzagentur später auf Twitter mit. 

Griechenland: Küstenwache unternimmt Einsatz, aber vorerst keinen Rettungsversuch

Daraufhin seien ein Schiff der Küstenwache sowie ein Hubschrauber zu dem Ort aufgebrochen. Doch die wiederholt angebotene Unterstützung per Telefonkontakt sei abgelehnt worden. Die Person am anderen Ende der Leitung habe demnach gesagt, dass das Schiff nicht in Gefahr sei, wie mehrere griechische Medien übereinstimmend berichten.

Am Nachmittag brachte dann ein Schiff den Menschen an Bord des Fischerbootes Lebensmittel und Wasser. Auch Soufi berichtet von der Wasserlieferung. Demnach habe man dazu Seile an zwei Stellen des Bootes gebunden, um ein Auseinandertreiben mit dem Schiff der Helfer zu verhindern. In der Folge sei Angst unter den Migranten aufgekommen, dass ihr Boot kentern könnte.

Weitere Hilfe sei dann abgelehnt worden, schreibt die Küstenwache. Bei einem neuen Hilfsversuch eines Schiffs hätten die Migranten jegliche Unterstützung sowie Proviant abgelehnt. Bis in die Abendstunden habe es der Meldung nach wiederholt Telefonkontakt mit dem Boot gegeben, bei dem man weiter auf Unterstützung verzichtet und mitgeteilt habe, den Kurs auf Italien fortsetzen zu wollen. Die griechische Küstenwache unternahm demnach also keinen Rettungsversuch der Migranten, habe das Boot aber aus der Nähe beobachtet, "um möglicherweise Hilfe zu leisten".

"Diese Menschen waren 'gepackt', sie lagen übereinander und waren tagelang unterwegs. Niemand weiß genau, wie viele Tage sie unterwegs waren", sagte der Sprecher des Teams zur Identifizierung von Katastrophenopfern, Vassilis Makris, am Donnerstag dem griechischen Nachrichtendienst APE-MPE. Und: Laut Soufis Schilderungen waren sogar sechs Leichen an Bord.

Ein Boot wird im Dunkeln auf dem Meer mit einem Licht angestrahlt
Der Fischerkutter vor seinem Untergang im Mittelmeer
© Griechische Küstenwache

"Ich habe das Gefühl, dass dies unsere letzte Nacht im Leben sein wird"

In der Nacht sei die Situation dann noch dramatischer geworden, schreibt sie. Die Menschen an Bord des Bootes hätten nicht gewusst, ob sie gerettet oder gar tiefer in Gefahr geraten würden. Sie hätten die Fahrt nach Italien nicht fortsetzen wollen, weil sie nicht gewusst hätten, wie sie ohne den Kapitän dort hinkommen würden. Dieser soll das Boot auf offener See zurückgelassen haben. "Die ganze Zeit über fragten sie mich, was sie tun sollten, und ich sagte ihnen immer wieder, dass griechische Hilfe kommen würde", so die Aktivistin. In einem letzten Telefonat mit einem Mann habe er ihr gesagt: "Ich habe das Gefühl, dass dies unsere letzte Nacht im Leben sein wird."

Einem Bericht der Zeitung "Iefimerida" zufolge habe eine Person auf dem Boot in der Nacht auf Mittwoch die griechischen Behörden über ein Motorenproblem informiert. Demnach konnte das Boot nicht mehr weiterfahren. Auch die Tageszeitung "Kathimerini" berichtet von einem Motorschaden. Am frühen Mittwochmorgen kenterte das Boot schließlich und sank. Daraufhin habe die griechische Küstenwache umgehend eine große Such- und Rettungsaktion mit mehreren Schiffen eingeleitet. Auch ein Hubschrauber sowie ein Transportflugzeug vom Typ C-130 seien in das Gebiet aufgebrochen. Wie sich wenig später herausstellte, kam es zu einem der schwersten Seeunglücke der vergangenen Jahre in Griechenland. 78 Leichen wurden bereits geborgen (nach aktuellem Stand von Donnerstagnachmittag), 104 Migranten konnten überlebend gerettet werden. 

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Keine Hoffnung mehr auf Überlebende

Eine großangelegte Suchaktion gemeinsam mit Kriegsmarine und Luftwaffe dauert aktuell weiter an. Es besteht allerdings keine Hoffnung mehr, noch Überlebende zu finden. Ein Großteil der Menschen an Bord wurde wohl gemeinsam mit dem Boot in die Meerestiefe gerissen. Damit liegt die Todeszahl Annahmen zufolge bei über 500, denn hunderte Menschen werden noch vermisst, darunter offenbar auch Frauen und Kinder. Medienberichten zufolge waren etwa 100 Kinder an Bord.

Griechische Medien thematisieren nun, dass die griechische Küstenwache früher eine Rettungsaktion hätte unternehmen sollen. Möglicherweise hätte das schwere Unglück dann verhindert werden können. Indes befinden sich unter den Überlebenden offenbar auch die Verantwortlichen für die tödliche Überfahrt. Acht mutmaßliche Schleuser wurden von der Hafenpolizei festgesetzt. 

Quellen: Griechische Küstenwache, "Iefimerida", "Kathimerini", APE-MPE, mit Material der dpa

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