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Kardinal Woelki: Caritas et Furor Warum wir der Angst entgegentreten können

Wir leben in einer schnellen, unvorhersehbaren Welt. Das Ergebnis: Eine Gesellschaft voller Angst. Aber gerade deswegen ist es wichtig, dass die Menschen die Kraft finden, der Furcht entgegenzutreten, denkt Kardinal Woelki.

Wir leben in einer Gesellschaft der Angst – so diagnostiziert der führende deutsche Soziologe Heinz Bude kürzlich in einer vielbeachteten Studie. Die augenscheinliche Freiheit unserer globalisierten und von Marktlogiken tief durchdrungenen Gesellschaft beruhigt uns nicht, sie beunruhigt vielmehr, denn unser Leben ist unübersichtlich geworden.

Schon morgen kann ein Ereignis auf einem anderen Kontinent die Konjunktur ungünstig beeinflussen, die Andersheit eingewanderter Menschen und ihr Lebensstil befremden manche. Terroranschläge mit vielen Toten mitten in Europa scheinen unser Leben jeden Tag existenziell zu gefährden.

Sogar das Liebes- und Beziehungsleben ist unstet geworden und wird in Zeiten der Partnerschaftsportale von Angebot und Nachfrage beherrscht. Viele haben Angst, sich nicht mehr auf die Liebes- und Treuezusage ihres Partners verlassen zu können. Angesichts einer Scheidungsquote von inzwischen mehr als 40% scheint diese Angst nicht einmal unberechtigt. Noch vor Jahren schien man sich gegen viele Risiken versichern zu können, doch selbst die in Deutschland so beliebte Lebensversicherung schwankt in Zeiten des Niedrigzinses. Dass die Renten sicher seien, glaubt eh niemand mehr.

Religion: Nur eine Vertröstung auf ein fiktives Jenseits?

Rainer Maria Kardinal Woelki: Caritas et Furor

Im alten Kirchenlied war noch von "Caritas et Amor" die Rede, heute begleiten Kölns Kardinal in seinem Glauben auch die "Nächstenliebe" und manchmal der "Zorn". Rainer Maria Woelki, Jahrgang 1956, kann sich lediglich über Fehlpässe seines FC ähnlich echauffieren wie über Ungerechtigkeiten und Fouls in unserer Gesellschaft. Er weiß, dass das Kirchenschiff manchmal durch schwere Wetter muss, aber das hindert ihn nicht, einen weiten Horizont im Blick zu halten. Hier schreibt er über ewige Wahrheiten für Menschen mit wenig Zeit.

Was liegt da näher, als nach anderen Bindungen und Sicherheiten zu fragen? Nach Bindungen des Blutes und des Bodens? Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit gaukeln uns eine Welt vor, in denen die Angst vor dem Unbekannten ein für alle Mal besiegt zu sein scheint. Doch diese populistische Spielart der Politik, welche sich den andauernden Alarm durch medial vermittelte Krisenbotschaften und Schlagzeilen zunutze macht, erzeugt nur einen falschen Alarmismus, lässt den Wunsch nach einfachen Lösungen wachsen und verhindert tatsächlich notwendige Debatten und Maßnahmen.

In der Bibel wird uns immer wieder zugerufen "fürchtet euch nicht". Die Engel bei Jesu Geburt und der auferstandene Jesus selbst sprechen dies denen zu, die angesichts der eigenen prekären Existenz, angesichts gescheiterter Hoffnungen und des jedem Menschen drohenden Todes eine ähnlich existenzielle Angst verspüren, wie wir heute. Aber ist das nicht nur billige Vertröstung, wie sie Religionen eben zu bieten haben? Nicht mehr als "Opium für das Volk", um angesichts von Sterblichkeit, Ungerechtigkeit und Verzweiflung einfach irgendwie weiter zu leben?

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber

Tatsächlich steht Religion immer in der Gefahr nur als Vertröstung auf ein fiktives Jenseits zu wirken und so mit der Bodenhaftung auch jede politische Wirkung zu verlieren. Doch die Botschaft Jesu ist die Botschaft eines hier bereits wirkenden Reiches Gottes, das wie ein warmer Sonnenstrahl bereits die hiesigen Verhältnisse durchdringt und verändert.

Angst ist immer ein schlechter Ratgeber. Wer dagegen daran glaubt, dass Liebe und Zuwendung, Verzicht auf eigene Ansprüche und soziales und politisches Engagement tatsächlich etwas verändern können, tritt der Angst bei sich und anderen entgegen. Wir brauchen heute mehr denn je Menschen, die aus dieser Gewissheit heraus leben und unsere Welt mitgestalten.

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