Es ist ein ruhiger Morgen, als hätte Hurrikan "Hilary" tatsächlich alles weggespült. Doch nach dem heftigen Dauerregen in der Nacht auf Montag hat sich draußen nichts verändert: Die Palmen stehen noch, einzelne letzte Regentropfen stürzen sich von den Pflanzen entlang der Straße in kleine Pfützen, die silbern auf dem Gehweg schimmern. Ein ungewohnter Anblick in Venice Beach, Los Angeles. Die Ruhe schwebt über der Nachbarschaft wie eine vorsichtige Erleichterung. Nur ein einziger Mensch ist außer mir unterwegs. Leises Flip-Flop über den nassen Asphalt.

Im Laufe des Morgens wird klar werden: Venice Beach hatte einfach Glück. Woanders haben sich Straßen nach Rekordregenfällen in schlammige Flüsse verwandelt.
Freitag: Die Ruhe vor dem tropischen Sturm
So richtig beunruhigt ist niemand. " So oft haben sie das Schlimmste vorhergesagt, und dann verpufft es", schreibt mir meine Mitbewohnerin. Sie ist diese Woche in ihrem Haus in der Wüste. Es ist Freitag und ich lese das erste Mal auch in amerikanischen Medien von "Hilary", einem tropischen Sturm, der auf Kalifornien zusteuert. "Was hat es damit auf sich?", frage ich also einen Bekannten. Er wohnt in Ventura, nördlich von L.A. "Hmmm." Er überlegt. Dann schickt er mir eine weitere Nachricht: "Ich wünschte, ich könnte dir das sagen, aber ich hab noch nie einen erlebt." Hilary ist der erste tropische Sturm, der Los Angeles seit 84 Jahren trifft. Im Grunde genommen sei es ja "nur" ein tropischer Sturm, schreibt mein Bekannter. "Er könnte einige Bäume umhauen, aber ich glaube nicht, dass er sehr gefährlich ist und wahrscheinlich wird es deinen Tag gar nicht beeinflussen - wann immer es dann losgeht."
Im Laufe des Nachmittags frage ich einen anderen Bekannten nach Hilary, er fragt, ob ich Hillary Clinton meine. Eine Kollegin aus Deutschland schreibt mir: "Ach ja, das ist ja, wo du bist."
Samstag: Wir vergessen die ganze Zeit den Hurrikan!
Samstagmorgen geht ein leichter Wind an der Westside, die Sonne scheint an einem wunderbaren Sommertag. Noch kann sich niemand vorstellen, dass Regen fallen wird. Ich will Pläne machen mit einem Bekannten für Sonntagabend. Dann sagt er: "Warte mal, wahrscheinlich sollten wir da zuhause bleiben?" Ich stimme zu: "Shit, wir vergessen die ganze Zeit den Hurrikan!"
Meine Mitbewohnerin ist zurück in Venice Beach. Sie erzählt, dass sie sich bei der örtlichen Feuerwehr in dem Ort in der Wüste in der Nähe des Joshua Tree Nationalparks Sandsäcke besorgt hat, um sie vor die Haustür zu legen. Ich versuche etwas Unterstützendes zu sagen und erzähle ihr von der Headline eines Artikels, der sich darum dreht, dass Teile Kaliforniens "dank des Hurrikans" in wenigen Tagen so viel Regen bekommen würden, wie sonst das ganze Jahr über. Regen wird in Southern California meist willkommen geheißen; es holt die Leute kurz aus dem steten Sonnenschein, gibt die Möglichkeit, sich an so etwas wie Jahreszeiten zu erinnern – und es wirkt den stetigen Dürren entgegen. Sie schaut mich skeptisch ab. "Wir werden sehen." Dann zeigt sie mir Bilder von sich auftürmenden Wolken in der Wüste vom gestrigen Tag. Wie Vorboten vor dem Sturm, sagt sie.

Am Nachmittag verstehe ich es langsam: Wenige Kilometer vor der Küste soll Catalina-Island evakuiert werden. Die mega Veranstaltungsstätte Hollywood Bowl in L.A. sagt Konzerte ab und der Zwölfjährige in der Nachbarschaft hofft mit schelmischen Grinsen auf schulfrei.
Biden hat die Kalifornier dazu aufgerufen, sich gut vorzubereiten und auf die örtlichen Warnungen zu hören.
So richtig weiß niemand, wie man sich hier auf viel Regen vorbereitet. Erdbeben hingegen, okay. Auch mein Bekannter in Ventura schreibt, dass er Erdbeben beispielsweise Tornados vorziehen würde: "Erdbeben geschehen einfach oder eben nicht, aber Tornados muss man voraussehen, abwarten und stundenlang befürchten.”
Sonntag: Hurrikan-Brunch in der Twilight-Zone
Es ist so eine Sache mit dem Warten, da hat mein Bekannter Recht. Da schenken sich Tornado und Hurrikan wohl nicht viel. Es ist schwül und es regnet seit dem frühen Sonntagmorgen. Wasser dringt leicht durch das Fenster im Wohnzimmer, die Tropfen klopfen unaufhörlich an die Scheibe. Wir sitzen zu sechst um einen Tisch und essen. "Hurrikan Brunch", scherzen wir. Eine Freundin kommt nicht, weil sie nicht ins Auto steigen will. Der US-Wetterdienst hatte am Wochenende gewarnt, nicht in überflutete Gebiete zu fahren, da sich "die meisten Todesfälle durch Überschwemmungen" in Fahrzeugen ereignen würden. Wir hatten den Brunch schon vor Wochen geplant und dann entschieden, dass wir bei schlechtem Wetter einfach nach drinnen umziehen.
Erst Erdbeben, dann Sintflut: Tropensturm "Hilary" fegt über Kalifornien hinweg

Um 11.49 Uhr kommt dann die erste erwartbare amtliche Warnmeldung auf den Handys an. Ein unfassbar unangenehmer Ton schrillt aus meinem Android: "Nationaler Wetterdienst: Eine WARNUNG VOR PLÖTZLICHEN ÜBERSCHWEMMUNGEN gilt für dieses Gebiet bis 19:45 Uhr, PDT. Dies ist eine gefährliche und lebensbedrohliche Situation. Unternehmen Sie keine Reisen, es sei denn, Sie fliehen vor einem von Überschwemmungen betroffenen Gebiet oder aufgrund einer Evakuierungsanordnung." Unsere Freundin Darcy sagt, dass sie jetzt gern eine Runde im Regen spazieren würde, das ginge hier ja so selten. Ich halte ihr mein Handydisplay hin. Offensichtlich fehlt mir die kalifornische Entspanntheit. Ich schenke allen Prosecco nach.
Meine Mitbewohnerin bittet um Entschuldigung, als sie sich ihrem Handy widmet. Die Gäste in ihrem Haus in der Wüste haben ihr ein Video geschickt: Ein schlammiger Bach schlängelt sich dort durch einen Garten. "Das ist das Haus neben meinem", sagt sie. Der Strom sei ausgefallen, die Küche laufe mit Wasser voll, ihre Gäste hätten Handtücher ausgelegt. Ich hole noch eine Flasche Prosecco aus dem Kühlschrank.
Mein Handy blinkt wieder um 14.41 Uhr. Eine weitere Warnung wegen Hilary, denke ich. Dann lese ich, dass es ein Erdbeben gibt. "Drop, Cover, Hold On. Protect Yourself.” Ich lese laut vor und höre mir dabei zu. Kurz überlegen wir, ob wir alle unter den Tisch passen würden. Der Zwölfjährige aus der Nachbarschaft hat leuchtende Augen: "Stärke 5 sagen sie? Das ist ziemlich stark!"
Während niemand sich vom Tisch unter den Tisch bewegt, schreibt ein Freund: "Ernsthaft? Vor Hilary noch eben ein Erdbeben einstreuen? Mother Nature is unhappy…" Er habe die Erschütterungen klar gefühlt, "eine der stärkeren" Beben, die er erlebt hat. Einige Minuten verstreichen, wie lange braucht ein Erdbeben? Wir spüren davon nichts. "Dieser ganze Tag ist ein bisschen wie aus der Twilight Zone", sage ich in die Runde. Die "L.A. Times" schreibt auf Instagram: "Ja, Südkalifornien hatte gerade ein Erdbeben. Ihr bildet euch das nicht ein."
Wir essen ein zweites Mal Dessert, der Hurrikan-Brunch dauert bis in den Abend, während draußen immer mehr Regen fällt. "Sintflutartig", schreiben die Nachrichtenagenturen später. Ich stelle mir vor, wie es nie aufhört zu regnen und das Wasser rund um das Haus einfach steigt, bis das große Fenster im Wohnzimmer den Blick frei gibt auf eine Unterwasserlandschaft und wir für immer hier um diesen Tisch sitzen und ausharren. Um 18.30 Uhr kommt wieder eine Warnung auf mein Handy. Routiniert schalte ich das laute Plärren aus. Die Warnung vor den Überflutungen ist verlängert worden bis 3 Uhr.

Ich wache nachts regelmäßig auf, lausche nach draußen, höre, dass es noch immer regnet und denke: es regnet noch immer. Dann schlafe ich ein, wache auf, glaube, eine Erschütterung zu spüren. Um 5 Uhr stehe ich auf. Der Regen hat nachgelassen.
Montag: Nach dem "Hurriquake"
Ich checke die örtlichen Medien und Twitter. Der Hashtag "Hurriquake" bekommt viel Aufmerksamkeit. Freunde teilen Memes auf Instagram, die versuchen, diesen unwirklichen Tag abzubilden. Alle, die Glück hatten, können scherzen: über lang ersehnten Regen, über das Ende der Welt, das L.A. bei einem Erdbeben während eines tropischen Sturms ereilt.
In einigen Wüstenregionen fiel mehr als die Hälfte des durchschnittlichen Niederschlags eines Jahres während des Sturms. Zehntausende Menschen in Südkalifornien waren ohne Strom, in der Wüstenstadt Palm Springs fiel die Notfallnummer aus.
Meine Mitbewohnerin hat nichts mehr von ihren Gästen im Haus in der Wüste gehört. Sie geht davon aus, dass keine Nachrichten gute Nachrichten sind. Als ich das Haus verlasse, schaut sie durch das Fenster nach draußen: "Was für ein herrlich ruhiger Morgen."
Weitere Quellen: "CBS", "Los Angeles Times".