Da sind keine warnenden Vorzeichen, nichts, das am Anfang nicht stimmen würde. Erst nach ein paar Monaten kommen die Zweifel. Und nach den Zweifeln kommt die Angst. Sie wächst ins Unermessliche, lässt Petra B. keine Luft mehr zum Leben. Im November 2015, eineinhalb Jahre nach ihrem ersten Chat mit Rolf B., nimmt Petra B. einen gelben Strick, geht in den Keller und erhängt sich am Heizungsrohr.
Petra B. ist 42 Jahre alt, als sie Rolf B. im Sommer 2014 übers Internet kennenlernt. Gerade hat sie sich von ihrem letzten Freund getrennt, nach zwei Jahren Beziehung. Ihr Ex, so hat sie sich bei ihrer Mutter beklagt, "bekam nichts auf die Reihe", konnte ihr "nicht das Wasser reichen". Petra B. ist erfolgreich in ihrem Job als Speditionskauffrau. Sie lebt in einer Eigentumswohnung, reist um die Welt. Sie wünscht sich einen Partner, aber einen, der ihr "ebenbürtig" ist.
Rolf B. ist drei Jahre älter als sie, Betriebswirt, fährt Porsche, wohnt in einer Eigentumswohnung. Sie reden viel. Stundenlang. Rolf B. erzählt, dass er von seinen Eltern geerbt habe und nicht mehr arbeiten müsse. Und dass er sich gerade – nach 20 Jahren Ehe – von seiner Frau getrennt habe. "Im Guten", sagt er. Und Petra B. glaubt ihm. Nach drei Monaten Freundschaft versuchen sie sich als Paar.
"Irgendwas stimmt nicht mit dem Mann"
Im Dezember, da kennen sie sich fünf Monate, fliegen die beiden mit Petras Eltern für vier Wochen in die Dominikanische Republik. Schneeweißer Strand. Palmen. Türkisfarbenes Meer. Doch der Urlaub wird zum Albtraum. Immer wieder betrinkt sich Rolf B., macht seiner Freundin Eifersuchtsszenen. Als Petra B. mit einem alten Mann tanzt, täuscht er einen Herzanfall vor. "Du bist schuld, wenn ich sterbe", stöhnt er. Doch als Petra ihn in die Klinik fahren will, ist Rolf B. auf einmal wieder gesund.
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"Irgendwas stimmt nicht mit dem Mann", sagt Petra B. zu ihrer Mutter, als sie wieder in Deutschland sind. Und tatsächlich kommt es bald darauf zum Eklat. Im Februar spricht Petra B. Rolf B. versehentlich mit dem Namen ihres Exfreunds an. "Da hat er mich mit dem Messer angegriffen und gesagt, dass er mich abschlachtet", erzählt Petra B. völlig aufgelöst ihrer Mutter – und zeigt ihr eine Jacke, die an der Seite aufgeschlitzt ist. Es ist das Ende der Beziehung zwischen den beiden. Fortan lebt die Angestellte in ständiger Angst.
Rolf B. klingelt Sturm an ihrer Haustür, ruft nachts an, atmet ins Telefon. Er schickt ihr Kurznachrichten aufs Handy. Einmal sind es 111 in einer Nacht.
Petra B. liest:
"Alles an dir ist überdimensioniert. Du siehst nicht aus wie eine richtige Frau."
"In deinem Leben wirst du niemals weiterkommen. Ich werde dafür sorgen."
"Du bist tot." Du wirst nicht mehr auf die Beine kommen."
Er kratzt ihr Namensschild von der Tür, als wolle er sie auslöschen. Lauert ihr auf, wenn sie morgens aus dem Haus geht. Und wenn sie abends von der Arbeit kommt. Steht nur da. Sagt nichts. Als sie sich in ihr Auto setzt, weicht plötzlich die Luft aus den Reifen.
Die Speditionskauffrau geht zur Polizei, erstattet Anzeige. Doch es dauert, bis die Justiz in die Gänge kommt. Petra B. übernachtet bei ihren Eltern, so wie es ihr ein Polizist geraten hat. Doch Rolf B. spürt sie auch dort auf. Als sie einmal im Auto sitzt und auf Vater und Mutter wartet, schleicht er um den Wagen herum und zersticht die Reifen.
Anfang März 2015 checkt Petra B. am Computer ihres Vaters die Mails, die für sie in der Spedition eingegangen sind. Plötzlich sieht die Mutter, wie ihre Tochter in sich zusammensinkt. Rolf B. hat ihr eine Mail ins Büro geschickt, mit Kopie an ihre Vorgesetzten und die Firmenzentrale:
"Du schluckst mein Sperma, trägst Reizwäsche und lässt dich von hinten ficken."
Die Angst will nicht mehr aus dem Kopf
Petra B. bricht zusammen. "Ich kann mich da nicht mehr blicken lassen", weint sie. "Der hat mein Leben zerstört." Wenig später findet ihre Mutter sie im Badezimmer. Sie steht in der Wanne, bis zu den Knien im Wasser. Und hält einen Lockenstab hinein. Die Mutter zieht den Stecker.
Die Eltern bringen ihre Tochter in eine psychiatrische Klinik. Zwei Monate lang bleibt Petra B. dort, erzählt den Ärzten, warum sie versucht hat, sich umzubringen. "Ich habe es einfach nicht mehr ausgehalten und wollte nur noch meine Ruhe." Die Mediziner können ihr nicht helfen. "Sie bekam die Angst nicht aus dem Kopf, saß geistesabwesend in der Gruppensitzung", wird sich ein Arzt später erinnern.
Erst im April geht es etwas aufwärts. Petra B. erfährt, dass ihr Ex in Untersuchungshaft sitzt. Und das nicht nur wegen ihrer Anzeige. Er hat, so hört sie, noch weitere Frauen terrorisiert. Petra B. versucht, sich ins Leben zurückzukämpfen. Sie verlässt die Klinik, lässt sich ambulant betreuen, geht wieder zur Arbeit.
Ihre Kollegen freuen sich. Sie schätzen Petra B. als "nette, fröhliche und sehr kompetente Mitarbeiterin". Die Mails von Rolf B. sehen sie als das, was sie sind: Verleumdungen eines Stalkers, die mehr über ihn verraten als über sein Opfer. Doch Petra B. ist nicht mehr die Alte. Sie wirkt fahrig, macht Fehler, hat Angst, ihren Job zu verlieren. "Meine Kollegen werden das immer im Hinterkopf behalten", sagt sie zu ihrer Mutter.
Im Mai 2015 setzt das Amtsgericht den Haftbefehl außer Kraft. Nach fünf Wochen U-Haft kommt Rolf B. wieder frei. Er darf sich Petra B. nicht nähern und muss Kontakt zu einem Psychiater halten. Rolf B. ist angeklagt wegen Nachstellung, Sachbeschädigung und Beleidigung in drei Fällen. Auch Petra B. soll vor Gericht gegen ihn aussagen. Doch sie hat Angst, ihn wiederzusehen. Angst, dass er sich eines Tages rächen könnte. Oder dass er ihr schon vor dem Prozess auflauert. "Jedes Mal, wenn eine Tür ins Schloss fiel, zuckte Petra zusammen", wird ihre Vorgesetzte später zu Protokoll geben. Im Drucker findet eine Kollegin einen Abschiedsbrief: "An meine Eltern. Ich habe euch über alles geliebt. Es tut mir leid, dass ich so schwach war. Ich war so gefangen in meiner Angst. Ich habe es nicht mehr ausgehalten." Als die Kollegen mit ihr reden wollen, wiegelt Petra B. ab. "Das war aus Langeweile. Macht euch keine Sorgen." Aber alle wissen, dass es an der Zeit ist, sich Sorgen zu machen. Petra B. Muss ihren Eltern versprechen, im Stundentakt anzurufen, wenn sie nicht im Büro ist.
Die Eltern warten vergebens auf den Anruf ihrer Tochter
Am 9. November, sieben Tage vor dem geplanten Prozess gegen den Stalker, arbeitet Petra B. bis 13 Uhr. Eine Kollegin begleitet sie in die Tiefgarage, weil Petra B. fürchtet, dass Rolf B. ihr auflauern könnte. Am Nachmittag warten die Eltern vergebens auf den Anruf ihrer Tochter.
Drei Monate später sitzt Petra B.s Vater zusammengesunken auf dem Zeugenstuhl im Stuttgarter Landgericht. Es fällt dem 74-Jährigen schwer, über den 9. November 2015 zu sprechen. Nachdem er und seine Frau stundenlang nichts von Petra gehört hatten, fuhren sie zu ihrer Wohnung, aber dort war sie nicht. Die Mutter ging in den Keller. Plötzlich hörte der Vater einen Schrei. Er rannte ins Untergeschoss. Und sah seine Tochter am Heizungsrohr.
Ein Nachbar habe ihm geholfen, das Seil zu lockern, berichtet der alte Mann. Im Gerichtssaal ist es ganz still. Nur ein Schluchzen ist zu hören. Petra B.s Mutter sitzt im Zuschauerraum und weint. Das Ehepaar hat sein einziges Kind verloren. "Wir haben sie auf den Boden gelegt und versucht, sie wiederzubeleben", sagt der Vater kaum hörbar. "Aber sie war schon ganz kalt."
Rolf B. sitzt nur wenige Meter entfernt auf der Anklagebank. Er starrt auf die Tischplatte, wirkt ungerührt. Die Staatsanwaltschaft macht ihn für den Selbstmord seiner Exfreundin verantwortlich, wirft ihm Nachstellung mit Todesfolge vor. Stalking ist seit 2007 strafbar, inzwischen ist die Zahl der Anzeigen fünfstellig, 2014 waren es 22 000. Doch obwohl niederländische Forscher inzwischen herausgefunden haben, dass die Opfer genauso großem psychischem Stress ausgesetzt sind wie Überlebende eines Flugzeugabsturzes, werden im Schnitt nur zwei Prozent der angezeigten Stalker verurteilt. Bei anderen Delikten ist die Quote 15-mal so hoch.
Auch Rolf B. scheint sich sicher zu fühlen, zwinkert in den Pausen zur Zuschauerbank. Tatsächlich betritt die Staatsanwaltschaft Stuttgart mit ihrer Anklage juristisches Neuland. Noch nie wurde ein Stalker in Deutschland verurteilt, weil er sein Opfer in den Tod getrieben haben soll. Die Ankläger müssen beweisen, dass der Selbstmord eine unmittelbare Folge des Stalkings war. Nur dann drohen Rolf B. bis zu zehn Jahre Gefängnis.
Rolf B. terrorisierte immer wieder Frauen
Der Angeklagte bestreitet nicht, seiner Exfreundin nachgestellt zu haben. Er sei über sein Verhalten "zutiefst erschüttert", lässt er seinen Anwalt erklären. Doch er habe "unter Alkoholeinfluss" gehandelt. Ohne zu wissen, dass Petra B. "psychisch krank" gewesen sei.
Tatsächlich war die Speditionskauffrau 2011 in psychiatrischer Behandlung gewesen, allerdings nur wegen eines Burnouts. Der Angeklagte aber will offenbar den Eindruck vermitteln, die Speditionskauffrau sei schon vor dem Stalking selbstmordgefährdet gewesen.
Wie weit Rolf B. bei der Verfolgung seiner Opfer ging, zeigt sich nicht nur anhand der Geschichte von Petra B. Rolf B. terrorisierte auch seine Exfrau, ihre Familie – und immer wieder Frauen, die er im Internet kennengelernt hatte.
Dabei verlief sein Leben jahrzehntelang völlig unauffällig. Rolf B. ist in Hamburg aufgewachsen. Die Verhältnisse bezeichnet er selbst als "geordnet". Sein Vater hatte drei Friseurläden. Nach der mittleren Reife machte B. eine Lehre zum Bürokaufmann, verpflichtete sich als Zeitsoldat bei der Bundeswehr, bildete sich zum Betriebswirt weiter. Mitte der 90er Jahre lernte er seine spätere Frau kennen, zog nach Baden-Württemberg und fand einen gut bezahlten Job als Personalsachbearbeiter. Das Paar wünschte sich Kinder. Doch Rolf B. ist zeugungsunfähig.
2013 starb seine Mutter. Ihr Tod traf den Sohn völlig unvorbereitet. Sie hatte ihm verschwiegen, dass sie krebskrank war. Rolf B. fing an zu trinken, immer öfter, immer mehr. Er fehlte häufig bei der Arbeit, unterschrieb schließlich einen Aufhebungsvertrag, bekam 25 000 Euro Abfindung. Da er von seinen Eltern mehrere Hunderttausend Euro geerbt hatte, suchte er sich keine neue Stelle. "Das habe ich nicht nötig", prahlte er.
Ende 2013 trennte sich seine Frau von ihm. Sie will vor Gericht keine Aussage machen, aber eines ist sicher: Rolf B.s Frau ging nicht "im Guten". Nach der Trennung denunzierte B. sie als Dealerin, zeigte sie bei der Polizei an. Und weil ihre Verwandten zu ihr hielten, gerieten auch sie ins Fadenkreuz. "Der große Krieg ist ausgebrochen", drohte Rolf B. der Familie seiner Frau per SMS. "Ihr seid alle tot."
Rolf B.s Schwager hatte plötzlich auf der Autobahn einen Platten. "Du verkaufst Koks", beschuldigte er eine seiner Nichten, eine Lehrerin, und drohte, sie beim Kultusministerium anzuschwärzen. Als die Pädagogin kurz darauf in ihren Smart stieg, war ihr Reifen platt. Auch eine andere Nichte, gerade zehn Jahre alt, wurde von Rolf B. bedroht. Ihre Eltern warnte er, dass das Kind "keinen sicheren Schulweg" habe.
Ein Urteil wie ein Paukenschlag
Es ist ein wiederkehrendes Muster, das während des Prozesses deutlich wird. Rolf B. verwendete viel Zeit und kriminelle Energie darauf, seinen Opfern zu schaden. Er verleumdete und bedrohte sie, versuchte, ihre Existenz zu vernichten. Er zerstach Reifen, nahm in Kauf, dass seine Opfer bei Unfällen ums Leben kommen würden.
Der Gerichtspsychiater hat keine Erklärung dafür, wie aus dem biederen Personalsachbearbeiter ein Psychoterrorist geworden sein könnte. Nach Lektüre der Akte sei er davon ausgegangen, dass Rolf B. unter einer schweren Persönlichkeitsstörung leide, sagt der Sachverständige. Doch nachdem er vier Stunden lang mit ihm geredet habe, sei er "überrascht", wie "normal" Rolf B. sei. Womöglich sei der Selbstmord doch keine Folge des Stalkings gewesen. Vielleicht habe Petra B. die Trennung nicht verkraftet. "Wenn der Traumprinz zum Monster wird, kann das traumatisieren." Zuschauer schütteln den Kopf. Die Richter blicken skeptisch.
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Der Angeklagte selbst glaubt, dass der "verteufelte Alkohol" an allem schuld sei. "Wenn ich könnte, würde ich alles wieder gut machen", sagt er in seinem Schlusswort. Doch die Richter halten seine Reue für "aufgesetzt", verurteilen ihn zu fünf Jahren und sechs Monaten Haft.
Es ist ein Urteil wie ein Paukenschlag. Ein Signal, dass Stalking ein Verbrechen ist – und dass die Täter harte Strafen fürchten müssen. "Wenn Sie weiter Frauen so verfolgen, wird die Sicherungsverwahrung zu prüfen sein", droht die Richterin sogar. Doch es ist nicht sicher, ob das Urteil rechtskräftig wird.
Rolf B. hat Revision eingelegt. Und plant schon sein Leben nach der Haft. Rolf B. hat eine neue Freundin. Während des Prozesses saß sie im Zuschauerraum. Sie war es, der er zugezwinkert hat. Die beiden haben sich vor der Verhaftung kennengelernt. Im Internet. Mit dieser Frau soll es endlich mal klappen, hat Rolf B. dem Gerichtspsychiater gesagt. Für sein weiteres Leben habe er drei Wünsche: Gesundheit. Ein langes Leben. Und eine harmonische Beziehung.