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Landesregierung unter Druck Geiselnahme: Halle-Terrorist baute sich "Schussapparat" aus Blatt Papier, Bleistift und Metallscharnier

Halle-Attentäter Stephan B. im Dezember 2020 im Gerichtssaal
Halle-Attentäter Stephan B. im Dezember 2020 im Gerichtssaal
© Ronny Hartmann / AFP / DPA
Er hat lebenslang und Sicherheitsverwahrung bekommen. Und trotz seiner Gefährlichkeit gelang es Halle-Attentäter Stephan B. im Gefängnis, Geiseln zu nehmen. Die Landesregierung von Sachsen-Anhalt ist in Erklärungsnot.

In der und über die Justiz in Sachsen-Anhalt herrscht Fassungslosigkeit. Nachdem Halle-Attentäter Stephan B. am Montagabend im Gefängnis von Burg (Landkreises Jerichower Land) zwei Beamte in seine Gewalt gebracht hatte, um sich den Weg in die Freiheit zu erzwingen (der stern berichtete), stand vor allem eine Frage im Raum: Wie konnte der verurteilte Doppelmörder in "einer der sichersten Justizvollzugsanstalten Europas" (Justizministerium Sachsen-Anhalt) an eine Waffe kommen?

Immerhin: Zwei Tage nach der Geiselnahme gab es darauf so etwas wie eine vage Antwort. Stephan B. hat sich den "Gegenstand" oder den "Schussapparat" – von einer "Waffe" wollte JVA-Chefin Ulrike Hagemann im Rechtsausschuss des Landtags in Magdeburg am Mittwochabend ausdrücklich nicht sprechen – innerhalb der Gefängnismauern offensichtlich selbst gebaut: aus einem Blatt Papier, einem Bleistift und einem Metallscharnier. Allerdings müssten Ermittlerinnen und Ermittler noch klären, welche Gefahr von dem Gegenstand tatsächlich ausging. Hätte B. damit jemanden verletzen können? Oder handelt es sich um eine Attrappe? Die Generalstaatsanwaltschaft in Naumburg untersucht den Fall jetzt weiter.

Wie konnte Stephan B. den "Gegenstand" bauen?

In jedem Fall sind die beteiligten Beamten nach Worten Hagemanns von einer echten Gefahr für ihr Leben ausgegangen. Die JVA-Chefin schilderte den Abgeordneten, was nach bisherigem Wissensstand am Montagabend passiert ist. Bei der Kontrolle des nächtlichen Einschlusses habe B. einen Bediensteten in seiner Zelle überrumpelt und mit dem "Gegenstand" bedroht. B. habe unmissverständlich gesagt: "Wir gehen jetzt raus." Aus Angst um sein Leben habe sich der Beamte gefügt, jedoch noch einen Alarmknopf drücken können, um seinen Kolleginnen und Kollegen hinzuzurufen. Auf dem Gefängnishof habe B. einen weiteren Beamten in seine Gewalt gebracht. Erst als der Rechtsterrorist einen Moment unaufmerksam gewesen sei, habe B. von den weiteren JVA-Bediensteten überwältigt werden können. Solche Situationen würden regelmäßig trainiert, erklärte Hagemann.

Die Mauern der Justizvollzugsanstalt Burg im Landkreis Jerichower Land
Die Mauern der Justizvollzugsanstalt Burg im Landkreis Jerichower Land
© Dietmar Gabbert / DPA

Doch wie konnte so eine Situation überhaupt entstehen? Dass Stephan B. hochgefährlich ist, ist kein Geheimnis. Allein seine Tat, für die er Ende 2020 zu lebenslanger Haft mit anschließender Sicherheitsverwahrung verurteilt wurde, ist Ausweis dessen. B. hatte im Oktober 2019 versucht, an Jom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, in die vollbesetzte Synagoge von Halle an der Saale einzudringen und dort ein Massaker anzurichten. Eine massive Holztür hielt ihn davon ab, in das Gebäude einzudringen. Im weiteren Verlauf seines Anschlags verletzte er weitere Menschen und erschoss auf offener Straße eine 40-jährige Passantin und in einem Dönerimbiss einen 20-jährigen Gast. Seine Taten streamte Stephan B. live ins Internet – und machte dabei auch aus seinen rassistischen und antisemitischen Motiven keinen Hehl. Gut anderthalb Stunden nach dem Angriff auf die Synagoge wurde B. festgenommen (Lesen Sie dazu: "Protokoll einer unfassbaren Tat: Anderthalb Stunden, die Halle für immer verändern" und "Er braucht ein Auto. Dann schießt er. Über die Flucht des Halle-Attentäters Stephan B.").

Schon bei seinem Anschlag in Halle verwendete B. zum Teil selbstgebastelte Waffen. Er lernte dafür im Vorfeld extra das Schweißen und schaffte sich einen 3D-Drucker an. Das meiste, was er für seine todbringenden Tüfteleien brauchte, gibt es in gewöhnlichen Baumärkten zu kaufen (Lesen Sie dazu: "'Mutti, mach's gut: Die letzten Stunden des Halle-Terroristen vor der Tat"). Im Gerichtsprozess machte B. lange und detailversessene Ausführungen zu Waffenbau und -technik. Es sei den JVA-Bediensteten bekannt gewesen, dass der Doppelmörder "fantasiebegabt" sei, räumte Gefängnisleiterin Hagemann im Rechtsausschuss ein. Dass er dennoch offenkundig Zugang zu Gegenständen hatte, die ihm den Bau eines "Schussapparates" ermöglicht haben, muss nach Ansicht der Opposition im Landtag dringend aufgearbeitet werden.

Kritik an Justizministerin von Sachsen-Anhalt

Die Fraktionsvorsitzende der Linken kritisierte am Rande der Sitzung in dem Zusammenhang auch Justizministerin Franziska Weidinger (CDU). "Für mich ist entscheidend, dass der Widerspruch nicht ausgeräumt worden ist zwischen der Aussage der Ministerin, dass der Gefangene lückenlos und sehr engmaschig betreut und begleitet und beobachtet worden ist, und der Vorfall trotzdem stattfinden konnte", sagte Eva von Angern dem Mitteldeutschen Rundfunk. Sebastian Striegel, innenpolitischer Sprecher der Grünen erklärte: "Weiterhin ist völlig unklar, unter welchen Bedingungen der Gefangene tatsächlich dort in der Anstalt war, wann entsprechende Durchsuchungen in seiner Zelle stattgefunden haben, mit wem er Kontakt hatte vorher und wie ein solcher Gegenstand entweder in die Anstalt gekommen ist oder in der Anstalt hat hergestellt werden können." Er sei "extrem beunruhigt", sagte Striegel der Nachrichtenagentur DPA und sprach von einem "schwerwiegenden Sicherheitsvorfall". Informationen aus dem Ministerium kommen nur scheibchenweise.

Auch eine Überlebende des Anschlags von Halle zeigte sich entsetzt. Bei Twitter schrieb sie: "Warum wird der Täter von Halle nicht als die Gefahr, die er offensichtlich darstellt, eingeschätzt? (...) Was ist in der JVA Burg eigentlich los, dass es zu solchen Missständen kommt?" Sie sie "erschöpft davon, jedes Mal aufs Neue an die Bedürfnisse von Betroffenen erinnern zu müssen".

Der jüngste Vorfall in der JVA Burg ist nicht das erste Mal, dass der Umgang der Behörden in Sachsen-Anhalt mit Stephan B. für Kopfschütteln sorgt. Bereits während seiner Untersuchungshaft unternahm er einen Fluchtversuch und überwand einen Zaun auf dem Gefängnisgelände, ehe Bedienstete ihn zurück in seine Zelle bringen konnten. Die Sicherheitsauflagen für B. waren zuvor gelockert worden, die Öffentlichkeit erfuhr erst Tage später von dem Ausbruchsversuch. Im September 2021 wurde außerdem bekannt, dass eine Polizeibeamtin aus Dessau-Roßlau B. regelmäßig Briefe in die U-Haft geschrieben hatte und darin Sympathien für den Anschlag von Halle bekundete.

Zu klären, wer die Verantwortung für die Geiselnahme vom Montag trägt, ist nun Aufgabe der Naumburger Generalstaatsanwaltschaft.

Quellen: Generalstaatsanwaltschaft NaumburgJustizministerium Sachsen-Anhalt, Mitteldeutscher Rundfunk, Nachrichtenagentur DPA

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