Vor gut einem halben Jahr erschütterte der rechtsterroristische Anschlag auf die Synagoge von Halle Deutschland. Der Generalbundesanwalt hat kürzlich Anklage gegen Stephan B. erhoben, unter anderem wegen zweifachen Mordes und Mordversuchs an 68 weiteren Menschen. Demnächst soll der Prozess vor dem Oberlandesgericht Naumburg beginnen.
Exklusive Recherchen des stern offenbaren nun eine bisher nicht bekannte Tragik des Geschehens: Der 9. Oktober 2019 in Halle hätte auch völlig anders, möglicherweise unblutiger verlaufen können. Zwei Polizisten waren in der Frühphase der Tat durch einen Zufall fast auf Tuchfühlung zum Täter. Sie kamen ihm unwissentlich bis auf wenige Meter nahe, und das noch bevor der erste tödliche Schuss fiel. Allerdings waren die seinerzeit 28 und 29 Jahre alten Männer zu diesem Zeitpunkt nicht im Dienst, sondern noch auf dem Weg zur Arbeit. Sie trugen keine Uniformen und waren auch nicht bewaffnet.
Polizisten sehen Beginn des Anschlags von Halle
Die beiden Beamten der Landespolizei Sachsen-Anhalt wohnten zum Zeitpunkt der Tat in Halle, einer von ihnen nur wenige Straßen von der Synagoge entfernt. Die Arbeitskollegen bildeten am 9. Oktober eine Fahrgemeinschaft, um mit einem Privatauto zu ihrer Dienststelle im etwa 25 Kilometer entfernten Bitterfeld-Wolfen zu gelangen.
Exakt um 12.02 Uhr fuhren sie mit ihrem Seat "Leon" am Gelände der Synagoge von Halle entlang. Nur gut eine Minute zuvor war dort der mutmaßliche Täter Stephan B. eingetroffen. Er machte sich zu diesem Zeitpunkt vor der Mauer des Synagogengeländes an seinem Mietwagen zu schaffen, der mit Schusswaffen, Munition und diversen Sprengsätzen beladen war. Die beiden Polizisten fuhren auf ihrem Weg zur Arbeit direkt an dem Attentäter vorbei.
In ihren späteren Zeugenbefragungen geben sie an, ihnen sei sowohl das im Halteverbot vorschriftswidrig abgestellte Tatfahrzeug aufgefallen als auch der spätere Täter. Sie hätten bemerkt, dass der Mann an der Synagoge einen Helm trug. Der ältere der beiden Polizisten erkannte sogar das am Helm von Stephan B. befestigte Handy, während dem jüngeren dessen uniformähnliche Kleidung mit Einsatzweste sowie das für die Gegend ungewöhnliche Kennzeichenfragment "EU – …" an dem von Stephan B. angemieteten VW Golf "Sportsvan" auffiel. Beide Beamten geben in der Vernehmung erstaunlich gute Personenbeschreibungen zu Protokoll: unbekannte Person, etwa 30 Jahre alt, circa 1,80 Meter groß, helle Haut, kein Bart. Waffen bemerkten die Beamten im Vorüberfahren nicht. Sie hätten auch nur den Oberkörper des Täters gesehen, weil dieser in dem Moment von seinem Auto teilweise verdeckt gewesen sei. Nach eigenen Angaben wussten beide Beamten auch nicht, dass es sich bei dem Gebäude hinter der Mauer um die Synagoge von Halle handelte.
Der Seat der Polizisten biegt ab – 30 Sekunden später stirbt Jana L.
Die Polizisten wunderten sich zwar über die merkwürdige Gestalt an der Synagoge, maßen ihren kurzen Beobachtungen im Vorüberfahren zunächst aber keine besondere Bedeutung zu. Allerdings warfen sie nochmal einen Blick zurück, als sie an einer nahegelegenen roten Ampel halten mussten. Das eigenartige Geschehen an der Synagoge versuchten sie sich damit zu erklären, dass dort vielleicht ein Film gedreht werde oder aber Kollegen eines Spezialeinsatzkommandos tätig seien. Erst als sie wenig später auf ihrer Dienststelle in Bitterfeld-Wolfen eingetroffen waren, erfuhren sie von dem Anschlag in Halle. Schnell wurde ihnen klar, dass ihre Beobachtungen damit in Verbindung stehen könnten. Sofort meldeten sie alles, was sie vor der Synagoge gesehen hatten, ihrem Vorgesetzten.
Der stern hat die Angaben der Polizisten mit den weiteren Ermittlungsergebnissen abgeglichen, insbesondere mit dem vom Täter während des Verbrechens selbst erstellten Handyvideo. Die Bilder belegen die verhängnisvolle Verkettung unglücklicher Umstände. Der Seat der Polizisten ist auf dem Video klar zu erkennen. Es ist auch zu sehen, wie die Beamten an einer roten Ampel im Kreuzungsbereich Humboldtstrasse/Paracelsusstraße halten müssen. Sie sind kurz zuvor, um 12.02 Uhr, keine 10 Meter von Stephan B. entfernt, als der nach seinen ersten gescheiterten Versuchen, gewaltsam in das jüdische Gotteshaus einzudringen, an der Beifahrertür seines Mietwagens steht und einen Sprengsatz aus dem Auto holt. Als die Ampel auf Grün schaltet, biegen die beiden Polizisten rechts ab in die Paracelsusstraße und verschwinden aus der Video-Aufzeichnung.
In diesem Moment biegt die 40-jährige Jana L. zu Fuß von der Paracelsusstraße kommend in die Humboldtstraße ein und nähert sich dem Täter. Nur 30 Sekunden nachdem die Polizisten den Ort des Geschehens verlassen haben, wird sie zum ersten Zufallsopfer: erschossen von Stephan B., direkt vor der Synagoge.

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Was wäre gewesen, wenn die beiden Beamten auf dem Weg zur Arbeit erkannt hätten, was sich wirklich vor ihren Augen abspielte? Hätten Sie den Anschlag und die Morde von Halle verhindern können? Wohl nur zum Teil. Die Polizisten waren noch nicht im Dienst und daher unbewaffnet. Stephan B. dagegen führte ein ganzes Waffenarsenal mit sich und war, wie sich Sekunden später zeigen sollte, auch bereit, sofort zu schießen. Den Mord an Jana L. hätten die Beamten daher kaum verhindern können – und wenn, dann nur unter akuter Lebensgefahr. Allerdings hätten sie weitere Einsatzkräfte alarmieren können. Und diese wären, da von Kollegen angefordert, möglicherweise schneller am Tatort gewesen, als dies tatsächlich der Fall war.
Nach dem Angriff auf die Synagoge ging stattdessen um 12.02 Uhr der erste Notruf von einer Anwohnerin ein, die gegenüber der Synagoge wohnt, allerdings bei der Rettungsleitstelle der Feuerwehr. Um 12.03 Uhr griff auch Max Privorozki, der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle, zum Telefon, allerdings wählte auch er nicht die Nummer der Polizei, sondern die der Feuerwehr.
Die Polizei erfuhr um 12.03 Uhr erstmals unmittelbar von einem Anrufer, was in der Humboldtstraße geschah und dirigierte um 12.06 Uhr die ersten Streifenwagen zur Synagoge. Um 12.11 Uhr trafen die ersten Beamten dort ein. Um 12.07 Uhr, also vier Minuten zuvor, hatte Stephan B. jedoch bereits den Tatort verlassen und war weitergefahren zum nahegelegenen "Kiez-Döner", wo er den 20-jährigen Malergehilfen Kevin S. erschoss.
Niemand macht den Beamten Vorwürfe
Wenn die beiden Polizisten von Halle sofort reagiert und Alarm geschlagen hätten und weitere Einsatzkräfte innerhalb von fünf Minuten am Tatort gewesen wären, hätte Stephan B. möglicherweise noch an der Synagoge gestellt werden können. Der Mord im "Kiez-Döner" und auch die Schüsse im gut zehn Kilometer von Halle entfernten Wiedersdorf auf ein Paar, von dem der Täter ein Fluchtfahrzeug zu erpressen versuchte: All das wäre dann möglicherweise noch zu verhindern gewesen.
Niemand hat die Polizisten anschließend für ihr Verhalten kritisiert. Es war eine kurze Zufallsbeobachtung, die schwer einzuordnen war, beide waren zudem noch nicht im Dienst. Einer der beiden Beamten sagt in der Vernehmung allerdings selbst, er habe sich später Vorwürfe gemacht, dass er seine Beobachtungen vor der Synagoge nicht ernst genug genommen habe.
Dass zwei Polizisten dem Täter ganz nah waren, nur wenige Augenblicke bevor dieser mit seinen Mordtaten begann, ist tragisch. Es ist eine bisher unbekannte Tragödie innerhalb der großen Tragödie von Halle.
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