Anschlag von Halle Anklage gegen den Halle-Terroristen: Wie sich Gericht und Opfer auf den Mammut-Prozess vorbereiten

Nach dem Anschlag von Halle herrschen Trauer und Entsetzen
Nach dem Anschlag von Halle herrschen Trauer und Entsetzen, weit über Deutschland hinaus – in Kürze soll der Prozess gegen Stephan B. starten
© Hendrik Schmidt / DPA
Vor gut einem halben Jahr attackierte Stephan B. die Synagoge in Halle. Die Tür zum Hof des Gotteshauses hielt seinen Angriffen stand, aber zwei Menschen verloren ihr Leben, andere wurden verletzt – am Körper und auch an der Seele. Jetzt soll dem geständigen Täter der Prozess gemacht werden.

Am 9. Oktober 2019 scheint in Halle an der Saale die Sonne. Es ist ein schöner, fast spätsommerlicher Tag. Stephan B., 27, sitzt am Steuer eines dunkelgrauen VW Golf, den er zwei Tage zuvor bei der "Avis"-Station am Hauptbahnhof angemietet hat. Das Fahrzeug ist schwer beladen: B. hat acht Schusswaffen, ein Schwert, zwei Messer und eine Keule darin verstaut, dazu Molotowcocktails, Splittergranaten und Nagelbomben, insgesamt 45 selbst gebastelte Sprengsätze. Es ist ein Waffenarsenal auf vier Rädern. Allein der Sprengstoff wiegt vier Kilo.

Stephan B. will damit die Synagoge von Halle angreifen. An diesem Mittwoch feiern Juden weltweit Jom Kippur, das Versöhnungsfest, es ist ihr höchster Feiertag. B. rechnet damit, dass deshalb auch die Synagoge von Halle voll ist mit Gläubigen. Er plant ein monströses Verbrechen: Er will dort so viele Juden wie möglich töten und das Blutbad per Livestream im Internet übertragen.

Er schwankt bis zum letzten Moment

Es ist kurz vor 12 Uhr. Das jüdische Gotteshaus in der Humboldtstraße ist nur wenige hundert Meter entfernt. Stephan B. gibt Gas, aber um in die Humboldtstraße zu gelangen, muss er zuvor noch die vielbefahrene Paracelsusstraße queren. An der Kreuzung springt die Ampel auf rot. B. bremst ab und wartet. Unendlich lange Sekunden vergehen. Er könnte in diesem Moment noch umkehren. Später wird er vor der Polizei aussagen, dass er bis zuletzt geschwankt habe, noch beim Anmieten des Tatfahrzeuges sei er nicht sicher gewesen, ob er seinen Plan wirklich umsetzen würde.

Aber er kehrt nicht um. Die Ampel springt auf grün, Stephan B. gibt Gas. Exakt um 12.00 Uhr und 32 Sekunden parkt er den VW Golf in der Humboldtstraße halb auf dem Gehweg, ganz nah bei dem kleinen dunkelbraunen Holztor, das den Zugang zum Gelände der Synagoge versperrt. Rund 50 Menschen haben sich dort versammelt, um zu beten und zu feiern.

Die Holztür zum Hof der Synagoge hält den Schüssen stand
Die Holztür zum Hof der Synagoge hält den Schüssen stand – und rettet so womöglich Dutzenden Menschen das Leben
© Hendrik Schmidt / DPA

Was in den dann folgenden drei Stunden und 40 Minuten passiert, wird ganz Deutschland erschüttern, ja weltweit für Entsetzen sorgen. B. wirft Sprengsätze über die Mauer des jüdischen Friedhofes, er beschießt das Holztor mit einer selbst gebauten Schrotflinte, um sich Zugang zu verschaffen – aber das Tor hält stand. Noch vor der Synagoge tötet er mit mehreren Schüssen eine zufällig vorbeilaufende Passantin, die 40 Jahre alte Jana L.. Voller Wut über den gescheiterten Angriff auf die Synagoge rast B. zu einem nahe gelegen Döner-Imbiss und erschießt dort den 20 Jahre alten Maler Kevin S., der gerade Mittagspause macht. Beide Morde sind mitleidlose Hinrichtungen. Kevin S. fleht, zusammengekauert hinter einem Getränke-Kühlschrank, zuvor noch vergeblich um sein Leben.

B. liefert sich mitten in Halle ein minutenlanges Feuergefecht mit der Polizei, er schießt wild um sich auf weitere Menschen, die seinen Weg kreuzen und gerade noch entkommen können, schließlich gelingt ihm mit seinem Miet-VW-Golf die Flucht aus der Stadt. Beim Versuch, ein neues Fluchtfahrzeug zu erbeuten, feuert er im kleinen Örtchen Wiedersdorf bei Halle auf Jens Z. und Dagmar M., die beide schwer verletzt werden, aber überleben. Schließlich kapert B. mit vorgehaltener Waffe an einer nahegelegenen Werkstatt ein Taxi und rast davon.

Erst um 13.40 Uhr endet der blutige Horror: Zwei Revierpolizisten aus Zeitz können den Täter an einer Baustelle an der B 91, rund 40 Kilometer südlich von Halle, stellen und festnehmen. Sofort sind schwer bewaffnete Sondereinsatzkommandos vor Ort. Sie machen noch am Ort der Festnahme Fotos von Stephan B.: Er kniet neben einer Betonabsperrung, noch in der dunklen Kampfmontur, die er sich für seinen Amoklauf angezogen hatte. Auf dem Gesicht sind Spuren von Dreck und Schlamm zu erkennen. Sein Blick ist in die Ferne gerichtet und seltsam leer. 

Collage mit Porträts von Merz, Klingbeil, Söder und Reiche

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Jetzt soll diesem Mann der Prozess gemacht werden. Der Generalbundesanwalt in Karlsruhe ist mit den Ermittlungen fertig, inzwischen ist die Anklageschrift beim für das Strafverfahren zuständigen Oberlandesgericht (OLG) Naumburg eingetroffen.

Halle-Attentäter Stephan B. wird am 10. Oktober 2019 zum Bundesgerichtshof gebracht
Halle-Attentäter Stephan B. wird am 10. Oktober 2019 einem Ermittlungsrichter am Bundesgerichtshof vorgeführt
© Uli Deck / DPA

Über den exakten Inhalt ist noch nichts bekannt, er dürfte sich aber an dem orientieren, was der Generalbundesanwalt Stephan B. bereits zu Beginn der Ermittlungen vorgeworfen hat: Mord in zwei Fällen sowie versuchter Mord in sieben weiteren Fällen, wobei die Ankläger zum Teil mehrere Tötungsdelikte "tateinheitlich" zusammenfassten. Sie sahen auch die typischen Mordmerkmale der "Heimtücke" und der "niedrigen Beweggründe" als erfüllt an. Möglicherweise kommen noch räuberische Erpressung und Volksverhetzung als weitere Anklagepunkte hinzu. Die Tat sei, so die Bewertung aus Karlsruhe, aufgrund ihrer offen zur Schau gestellten antisemitischen Motivation geeignet, gerade unter Bürgern jüdischen Glaubens ein Klima der Angst zu verbreiten, das Vertrauen aller Bürger in die Arbeit der Sicherheitsorgane nachhaltig zu beeinträchtigen und – gerade mit Blick auf die deutsche Vergangenheit – das Ansehen Deutschlands in der internationalen Staatengemeinschaft zu beschädigen.

Der Staat plant ein "Gegenfanal"

Schon das zeigt: Der Prozess gegen Stephan B. kann kein "normales" Gerichtsverfahren werden. Die ganze Welt wird darauf schauen. Schon vor Jahren kündigte Generalbundesanwalt Peter Frank an, der Staat müsse bei rechtsextremistisch motivierten Gewalttaten ein starkes Signal der Wehrhaftigkeit setzen, ein "Gegenfanal".

Zuständig für den Prozess ist das Oberlandesgericht (OLG) Naumburg, aber weil dort am Gericht kein geeigneter Saal vorhanden ist, soll das Verfahren im Landgericht Magdeburg stattfinden. Dort wurde ein rund 300 Quadratmeter großer Saal bereits umgebaut und mit modernster Technik ausgerüstet. "Dabei haben wir uns auf die Einschätzungen verschiedener Sicherheitsbehörden gestützt", sagt Gerichtssprecher Henning Haberland. Es dürfte massive Sicherheitsvorkehrungen geben. "Wir rechnen zudem mit einem sehr großen Interesse der Medien und zahlreicher normaler Prozessbeobachter", sagt Haberland. "Dazu könnten von der Opferseite noch Nebenkläger kommen und deren Anwälte."

Den Prozess wird Ursula Mertens leiten, die Vorsitzende des für Staatsschutz-Delikte zuständigen Ersten Strafsenats des OLG Naumburg. Ihr zur Seite dürften bis zu vier beisitzende Richter stehen. Wann es losgehen kann, ist noch ungewiss. In Justizkreisen wird damit gerechnet, dass das Verfahren erst im Mai, möglicherweise sogar erst im Juni, eröffnet werden kann. Nach Zustellung der Anklageschrift müssen die Prozessbeteiligten zunächst gehört werden, zudem muss die Vorsitzende überlegen, wie sie trotz Coronakrise die im Strafprozessrecht vorgeschriebene Öffentlichkeit des Verfahrens sicherstellt. Ein Livestream im Internet kommt nicht in Frage, denn in Deutschland sind Übertragungen und Aufzeichnungen von Gerichtsprozessen nach wie vor nicht zulässig.

Es dürfte in jedem Fall ein Mammutverfahren werden. Stephan B. war ein unauffälliger Mann, ohne Arbeit, der, obwohl zum Tatzeitpunkt bereits 27 Jahre alt, noch bei seiner Mutter in dem kleinen Örtchen Benndorf lebte, eine dreiviertel Autostunde westlich von Halle. Er hatte keine Freunde, nur wenige Bekannte. Ein seltsam blasser Typ, eine leicht verhockte Existenz, die Tage und Nächte allein daheim vor dem Computer saß.

Monatelang haben die Ermittler des Bundeskriminalamts (BKA) Vorleben, Kontaktpersonen und Tatvorbereitungen durchleuchtet, um der Figur Konturen zu geben, haben mit Mutter, Vater, Halbschwester, Nachbarn, ehemaligen Lehrern, Bundeswehr-Kameraden und früheren Kommilitonen von der Uni gesprochen. Die auf den Fall angesetzten Beamten der "Besonderen Aufbauorganisation 'Concordia'" knackten Computer-Passwörter, recherchierten Bankverbindungen und eBay-Käufe, sie durchwühlten den Kleiderschrank des Beschuldigten und ließen sich sogar seinen Deutsch-Aufsatz aus der Abiturprüfung zuschicken. Überall forschten sie nach möglichen Vernetzungen mit der rechtsextremistischen Szene, suchten nach möglichen Unterstützern und Helfern bei der Vorbereitung der Wahnsinnstat. Und mussten dann erkennen: Er war es vermutlich ganz allein. Er war der klassische Einzeltäter, geradezu der Prototyp des "einsamen Wolfs", der mangels Vernetzung auf den Radarschirmen der Ermittlungsbehörden nicht auftaucht.

Und gerade darum so gefährlich ist.

Viel Wahres, aber auch viel Halbwahres ist über Stephan B. im Umlauf, so etwa die in den vergangenen Tagen in manchen Medien verbreitete Behauptung, er habe "nun" offenbar ein "umfassendes Geständnis abgelegt", nachdem er zuvor monatelang geschwiegen habe. Tatsächlich hatte B. bereits am Tag nach der Tat in einem ersten Verhör vor dem Haftrichter am Bundesgerichtshof in Karlsruhe die Tat zugegeben und umfangreiche Angaben dazu gemacht. Weitere umfassende Aussagen machte er in fünf Vernehmungen noch im November 2019.

Auch die gern kolportierte Behauptung er sei ein "Einser-Abiturient" gewesen, ist falsch – in Wahrheit steht unter seinem Abi-Zeugnis, ausgestellt vom Martin-Luther-Gymnasium in Lutherstadt Eisleben im Juni 2010, die eher mittelmäßige Note 2,8.

B. soll vor der Tat Granaten bei sich zu Hause "im Bettkasten" gelagert haben – richtig ist vielmehr, dass er im Bettkasten größtenteils selbst gebastelte Schusswaffen aufbewahrte. Die Granaten verwahrte er dagegen wegen der Explosionsgefahr bewusst gerade nicht im Bettkasten, sondern in einem Schrak und in einem Klappsofa in einem eigenen, eher als Lagerraum dienenden Zimmer bei dem getrennt lebenden Vater.

stern-Reporter Tilman Gerwien
Trauerfeier für den getöteten Kevin S. – stern-Reporter berichtet von der Zeremonie

Verletzungen – am Körper und an der Seele

Ob B. vor Gericht selbst aussagen wird, ist noch ungewiss. Die Richter können sich aber auf sein umfangreiches Geständnis stützen, das er bereits in der Untersuchungshaft abgelegt hat. Fünf lange Gespräche führten die Vernehmungsspezialisten des Bundeskriminalamts BKA mit Stephan B., die Protokolle der Vernehmungen umfassen mehr als hundert eng beschriebene Seiten.

Sie sind ein erschütterndes Dokument der Selbstradikalisierung unter den Bedingungen bohrender Einsamkeit. Er habe immer Probleme gehabt, Beziehungen aufzubauen, habe nie Freude gehabt, allenfalls ein paar Bekannte, bekennt B. schon am Tag nach der Tat vor dem Ermittlungsrichter. Einmal, mit 18 oder 19, habe er ein Mädchen kennengelernt, sogar eine Nacht mit ihr verbracht, aber es sei nichts Intimes gelaufen. Sogar das, beklagt er sich selbst, habe er nicht hinbekommen. Als der Ermittlungsrichter fast schon tröstend erwidert, das müsse man doch nicht so negativ sehen, vielleicht habe er es ja nur ruhig angehen lassen wollen, wechselt B. blitzschnell das Thema. Deutschland habe ja immerhin drei Millionen fremde Männern ins Land gelassen – als Folge gingen manche bei der Frauensuche eben leer aus, so wie er.

Einmal Versager, immer Versager – so beschreibt B. selbst die Summe seines verpfuschten Lebens. Selbsthass und Fremdhass sind kaum zu trennen. Am Ende sagt er zu einem der anwesenden Vertreter des Generalbundesanwalts, dieser solle aber bloß nicht glauben, dass er sich jetzt in der Haft das Leben nehmen werde.

Max Privorozki ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeine zu Halle
Max Privorozki ist der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Halle. Er will im Prozess gegen Stephan B. als Nebenkläger auftreten
© Soeren Stache / DPA

"Ich hoffe, dass das Gericht sehr präzise die Hintergründe erforschen wird, zum Beispiel, wie diese antisemitische Paranoia sich entwickelt hat", sagt Max Privorozki zum stern. Der Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde in Halle war an jenem sonnigen Oktobertag im vergangenen Jahr in der Synagoge. Gemeinsam mit anderen sorgte er dafür, dass die Zugänge mit Tischen und Stühlen verbarrikadiert wurden. Über Stunden durften die verängstigten Gläubigen das Areal nicht verlassen. Schließlich setzten sie, in einer Mischung aus Zorn und Stolz, ihre Feierlichkeiten fort, den Gottesdienst, die Gebete.

"Ich habe vor, als Nebenkläger aufzutreten", sagt Privorozki. "Wie ich gehört habe, gibt es auch andere Menschen, die am Jom Kippur 5780 in der Synagoge gewesen sind, die als Nebenkläger auftreten möchten.“ Privorozki sagt ganz bewusst "5780". Das entspricht im jüdischen Kalender der Jahreszahl 2019. 

Privorozki will, dass im Gerichtssaal auch über die Opfer gesprochen wird. Über diejenigen, die ihr Leben verloren haben. Und über die anderen, die verletzt wurden. Am Körper, oder, so wie er und viele seiner Gemeinde: an der Seele.

Was empfindet er bei dem Gedanken, dass er womöglich dem Täter gegenüberstehen wird? "Ich will ihm nicht in die Augen schauen", sagt Max Privorozki. "Was soll ich in diesen Augen sehen? Den paranoiden Hass auf Juden? Dieser Mensch ist einfach nur krank. Ich werde so wenig wie möglich im Gerichtssaal sein."

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