Crime Story Die zweite Frau

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Männerhand, die sich unter eine Strumpfhose schiebt
Nylonstrümpfe waren nur einer seiner Fetische
© Jana Mai/stern Crime
Er spürt ein krankes Verlangen. Sie kann nicht Nein sagen. Und niemand schützt sie

Die Freundin sitzt in einem hellen Café in Hamburg am Hafen, sie hat die Jacke anbehalten und die Hände zwischen die Knie geklemmt. Es gab eine Zeit, sagt sie, da habe sie Lilly fast täglich gesehen, damals in Kiel. Sie hätten zusammen Musik gehört und in Discos getanzt, Kaffee getrunken und Darts gespielt. Sie hätten sich gegenseitig zum Lachen gebracht, wenn sie Grimassen schnitten, aber Lilly habe ohnehin viel gelacht. Ein herzliches Lachen, das die Sorgen zu zerstreuen schien. Wer lacht, der weint nicht.

Lilly sei ein bisschen verrückt gewesen und ganz schön schusselig. Wie oft mussten sie irgendwohin zurück, weil sie ihr Portemonnaie hatte liegen lassen, ihr Handy, ihren Schlüssel? Die Freundin lächelt still. Oft habe Lilly von ihrer kleinen Nichte aus Bulgarien erzählt, von der sie Fotos auf Facebook postete, und immer habe sie Nino dabeigehabt, einen Chihuahua-Mischling, der alles gedurft habe.

Die Freundin sagt, Lilly hätte gern ein anderes Leben geführt, ein seriöses, und trotzdem habe sie das Leben geliebt. Man habe mit ihr über alles reden können, aber ganz an sie herangekommen sei man nicht. Da sei etwas gewesen, was sie für sich behalten habe.

Man habe ihr vertraut, sagt die Freundin, und auch Lilly habe vertraut: oft zu schnell, oft den Falschen. Sie habe Lügen gehasst, aber den Lügnern verziehen, und sie sei oft belogen worden. Ihre Wut habe nie lange gehalten. Lilly habe das Gute gesehen, sagt die Freundin. Immer nur: das Gute. Das sei das Problem gewesen.

Erschienen in stern Crime 52/2023