Neue Entwicklungen im Fall der 1994 versunkenen "Estonia": Am Wrack der Ostsee-Fähre wurden bei Untersuchungsarbeiten zwei bisher unbekannte Risse entdeckt, wie schwedische Medien berichten. René Arikas, Leiter der estnischen Unfalluntersuchungskommission, sagte dies der schwedischen Nachrichtenagentur TT. Die Risse sollen 10 bis15 Meter lang sein. Es sei allerdings unklar, ob die im Zusammenhang mit dem Untergang oder danach entstanden sind.
Die beiden Risse wurden bei Arbeiten entdeckt, die derzeit am Wrack der "Estonia" im Rahmen einer neuen Untersuchung zum Untergang des Schiffes stattfinden. Jonas Bäckstrand von der schwedischen Havariekommission bestätigte die Entdeckung. Er sagte laut dem schwedischen öffentlich-rechtlichen Rundfunk SVT, dass es interessant sei, aber "dass die Gefahr besteht, dass man Daten überinterpretiert, bevor man das Gesamtbild hat".
Lange Risse am Rumpf der "Estonia"
"Daher wollen wir vorsichtig sein, Schlüsse zu ziehen, bevor unsere Experten die Daten zusammengetragen haben", sagte er zu TT. Die neuen, langen Risse wurden relativ weit hinten am Rumpf auf der Steuerbordseite gefunden, wie die schwedische Zeitung "Dagens Nyheter" berichtet. Genaue Angaben darüber, wie breit die Risse sind und ob sie vertikal oder seitlich am Schiff verlaufen, lägen jedoch noch nicht vor.
Rolf Sörman, Überlebender und Angehöriger, der sich an Bord eines der Untersuchungsschiffe befindet, sagte TT: "Ich habe sie auf den Computerbildschirmen gesehen, es gibt deutliche Risse. Sie haben einen anderen Charakter als die Risse, die in der Dokumentation zu sehen sind. Das sind parallele Risse, schmal, etwa ein Dezimeter breit, aber 10 bis 15 Meter lang."
Innenansichten eines Albtraums

"Nicht unwahrscheinlich", dass Schaden nach dem Untergang entstanden sei
Jörgen Zachau, Untersuchungsleiter der schwedischen Unfalluntersuchungsstelle, sagte "Dagens Nyheter": "Was sie haben, sind Sonarbilder von etwas, das sie als Risse interpretieren. Sie sind ohne eine tiefere Analyse gemacht worden. Wir müssen mehr herausfinden und diese Risse untersuchen, um zu sehen, wann sie aufgetreten sein könnten." Es sei nicht unwahrscheinlich, dass der Schaden nach dem Untergang des Schiffes entstanden sei.
Seit Anfang Juli untersucht Schweden gemeinsam mit Finnland und Estland den Fall "Estonia" neu, nachdem Dokumentarfilmer vergangenes Jahr mithilfe eines Tauchroboters ein mehrere Meter großes Loch im Schiffsrumpf entdeckt hatten.
Das Wrack steht als Ruhestätte unter Schutz, weil viele der Toten nicht geborgen werden konnten, und darf deshalb nicht aufgesucht werden. Nach den Enthüllungen im Dokumentarfilm hat Schweden allerdings Gesetzesänderungen vorgenommen, um den Riss genauer untersuchen zu können.
Spekulationen zu Untergang: Anschlag? Kollision mit U-Boot?
Seit dem 9. Juli findet nun die Voruntersuchung am Wrack der "Estonia" statt, die bis zum 18. Juli laufen soll. Das Schiffswrack und der Meeresboden werden dabei mit Echolot- und Sonargeräten untersucht. Ein Unterwasserroboter mit Kamera kommt ebenfalls zum Einsatz. Die Daten sollen später visualisiert werden. Umfassendere Untersuchungen sind dann im Frühling geplant.
Die "Estonia" befand sich auf dem Weg vom estnischen Tallin nach Stockholm, als sie in der Nacht zum 28. September 1994 versank. 852 Menschen starben, nur 137 überlebten das Unglück. Der Untergang gilt als schwerste Schiffskatastrophe in Europa nach dem Zweiten Weltkrieg.

Der offizielle Untersuchungsbericht aus dem Jahr 1997 kam zu dem Schluss, dass das Abreißen des Bugvisiers der Auto-Fähre bei schwerem Seegang die Ursache des Untergangs sei. Allerdings gibt es bis heute Zweifel an dem Ergebnis, weshalb Überlebende und Hinterbliebene seit Langem neue Untersuchungen fordern. So gibt es bis heute Spekulationen, dass eine Explosion unter Deck stattgefunden haben soll. Außerdem seht der Vorwurf im Raum, es sei militärisches Material an Bord des Schiffes geschmuggelt worden.
Margus Kurm, von 2005 bis 2009 Leiter einer Untersuchungskommission zum Fall "Estonia" und ehemaliger Generalstaatsanwalt in Estland, sagte nach der Enthüllung in der Dokumentation von 2020, dass der Riss nur mit einer Kollision mit einem U-Boot zu erklären sei.
Quellen: Nachrichtenagenturen TT und DPA, "Dagens Nyheter", SVT, "Süddeutsche Zeitung"