Vorbemerkung: Diese stern-Reportage ist vor der ursprünglich geplanten Verkündung des Strafmaßes im Juni erschienen. Aus aktuellem Anlass veröffentlichen wir sie in leicht gekürzter Version erneut.
Die Wachleute vor der Park Row 150 in Lower Manhattan tragen kurzärmelige Hemden, es ist kaum Sommer und schon schwül in New York. Hinter ihnen ragt ein zwölfstöckiges Gebäude wie eine Festung in den Himmel. Der Name ist mit goldenen Buchstaben angebracht, als befände sich hinter den rostbraunen Mauern und dem Natodraht ein Hotel und kein Gefängnis: "Metropolitan Correctional Center". Hier, in Trakt 10 South, wartete der berüchtigtste Kriminelle der Welt auf sein Urteil. Hier sitzt seit eingen Tagen auch Jeffrey Epstein, der US-Milliardär, der sich an jungen Mädchen verging.
Heute muss er sich Klopapier in die Ohren stopfen
Joaquín Archivaldo Guzmán Loera, 62, weltbekannt als "El Chapo", machten schon die Bedingungen in der Untersuchungshaft zu schaffen. Isolationshaft. Ein Leben auf zweieinhalb mal drei Metern. Kein Fenster, dafür 24 Stunden elektrisches Licht. Kein Hofgang und die Klimaanlage so laut, dass er kaum schlafen kann. Er hatte über seine Anwälte Ohrstöpsel fordern lassen, doch der Richter blieb hart. Früher führte das "Forbes"-Magazin den Drogenboss neben Warren Buffett und Bill Gates auf der Liste der reichsten Menschen der Welt, heute muss er sich Klopapier in die Ohren stopfen.

Auch wenn für El Chapo nichts anderes als "lebenslänglich" zu erwarten war, wollte er es der Welt noch einmal zeigen. All die Verräter, sie sollen noch einmal sehen, dass sich ein Joaquín Guzmán nicht kleinkriegen lässt. Er wird das Urteil anfechten. Befangenheit der Jury. Er ist regelmäßig aus dem Knast ausgebrochen, jeder noch so aussichtslosen Lage entronnen. Weshalb nicht auch jetzt?
El Chapo, der Volksheld, der in Balladen besungen wird
Als El Chapo für die Urteilsverkündung aus dem Gefängnis in Manhattan herausgebracht wurde, trugen die Wachmänner noch Jacken, es war im Februar, die Jury befand ihn unter anderem des internationalen Drogenhandels schuldig. Bis zum Prozess glaubte die Welt, schon zu wissen, wer El Chapo war: der Bauernsohn aus Sinaloa, der Marihuana für seinen Vater verkaufte, der sich hocharbeitete und 1988 sein eigenes Imperium erschuf, das Sinaloa-Kartell. Der CEO unter den Drogenbaronen mit einem feinen Gespür für die Trends des Marktes, ob Kokain, Methamphetamine, Heroin oder Hasch. Und mit einem Sinn für Logistik, ob Flugzeug, Lastwagen oder U-Boot. Ein Volksheld, der in Balladen besungen wird, der auf einem Motorrad durch einen 1,5 Kilometer langen Tunnel aus einem Hochsicherheitsgefängnis floh, für den seine Helfer 3250 Tonnen Erde bewegt hatten. Der reichste, der gerissenste, der mächtigste Drogenboss aller Zeiten.

Doch in Gerichtssaal 8 D im achten Stock des Bundesgerichts in Brooklyn kamen während der drei Monate des Prozesses noch viel mehr Wahrheiten ans Licht. El Chapos ehemaliger Leibwächter "Memín" erzählte, wie sein Boss ein Mitglied eines konkurrierenden Kartells tagelang mit einem Bügeleisen foltern ließ, ihn dann mit einer Pistole anschoss und befahl, ihn lebendig zu begraben. Sein ehemaliger Sekretär Alex Cifuentes erinnerte sich, wie sie sich minderjährige Mädchen besorgten für 5000 Dollar pro Kind. Und sein kolumbianischer Geschäftspartner "Chupeta", bizarr entstellt durch diverse Gesichts-OPs, präsentierte akkurat geführte Bücher, die belegen sollen, dass er El Chapo über Jahre Hunderte Tonnen Kokain geliefert hat. El Chapo schwieg. Das Reden überließ er seinen Anwälten. Einer von ihnen, William Purpura aus Baltimore, kam seinem Klienten so nahe wie kaum jemand in den vergangenen Jahren.
"El Chapo", sagt Purpura, "ist bauernschlau. Ein sehr strategisch denkender Typ, vor allem wenn man bedenkt, dass er erst mit 42 lesen und schreiben gelernt hat. Er sieht sich als Geschäftsmann.“
Ihn dürstet es nach Gesprächen
Zuerst redeten sie nur über Prozessstrategien, El Chapo wollte über jeden Vorwurf ehemaliger Geschäftspartner und Freunde Bescheid wissen. Doch seit ein paar Monaten stellt El Chapo seinem Anwalt andere Fragen. Was Donald Trump denn gerade treibe? Was so los sei in der Welt? Was die Enkelkinder machen?
"Er ist fast komplett von der Außenwelt abgeschnitten, nur seine Anwälte haben Zugang zu ihm. Ihn dürstet es nach Gesprächen", sagt Purpura. "Meist dauern meine Besuche drei Stunden, er tut alles, um mich lange dazubehalten."
Purpura, ein glatzköpfiger Mann mit scharfem Blick, empfängt in seinem Büro in Baltimore, die Wand ist gepflastert mit Fotos meist bedrohlich aussehender Gestalten. Drogendealer, die Purpura verteidigt hat. Sein Name ist bekannt in gewissen Kreisen Lateinamerikas. Daher wunderte er sich kaum, als ein Anruf kam, El Chapo wolle ihn sehen.
Jeder Zeuge kam beschädigt aus dem Zeugenstand
Purpura zögerte keine Sekunde. 13 Anwälte hatte El Chapo in seiner Zelle vorsprechen lassen, es war ein regelrechtes Casting. Einige von ihnen redeten von möglicher Freilassung. Purpura machte nur ein Versprechen: Ich verteidige mit den härtesten Bandagen. Egal, welche Beweise die Staatsanwaltschaft auffährt. Das gefiel El Chapo. Purpura erhielt den Job, zusammen mit zwei anderen Anwälten. Um die fünf Millionen Dollar sollen ihre Dienste kosten, Purpura möchte sich nicht dazu äußern und auch nicht sagen, woher sein Lohn genau kommt, nur so viel: "Aus dem Umfeld seiner Familie."
"Ich habe mein Versprechen gehalten", sagt er. Die Jury hat El Chapo zwar für schuldig befunden. Aber jeder Zeuge kam beschädigt aus dem Zeugenstand. "Das wollte er: zeigen, dass er sich noch immer wehren kann. Und weil er das nicht selber kann, musste ich das für ihn machen."
Anwalt Purpura wollte die zwielichtigen Männer und Frauen, die aussagten, im Kreuzverhör noch zwielichtiger erscheinen lassen. Er fragte, an die Jury gerichtet: "Würden Sie diese Typen Ihre Kinder babysitten lassen?" Er versuchte herauszuarbeiten, dass all die Zeugen nur Lügen auftischten, um ihren Kopf zu retten. Er führte aus, dass El Chapo nur eine Nebenfigur des Kartells sei und in Wirklichkeit sein Partner Ismael Zambada die Fäden ziehe.
Natürlich weiß Purpura, dass die Beweise erdrückend sind. "Doch die Sache ist noch nicht vorbei."
Er versuche, eine Neuauflage des Prozesses zu erreichen. "Es gibt Hinweise darauf, dass Geschworene Zugang zu Zeitungen, Fernsehen und Twitter-Accounts hatten. Ihr Urteil war damit voreingenommen."
"Er nennt mich 'mi hermano', mein Bruder"
Purpura steht von seinem Schreibtischstuhl auf und geht zum Kamin. Er hebt ein Foto im Plexiglasrahmen vom Kaminsims. Es zeigt El Chapo vor seiner Festnahme. Auf der Rückseite findet sich eine Widmung. "Für meinen Anwalt Bill Purpura, er ist der beste Anwalt der Welt. Aus tiefstem Herzen, Joaquín Guzmán."
Er stellt das Foto langsam zurück. "Er nennt mich mi hermano, mein Bruder."
Auch Jack Riley hat Fotos von Guzmán. Sie tragen allerdings keine Widmung. Sie zeigen El Chapo ausnahmslos in Gefängniskleidung, Freunde schicken sie ihm.
Er will, dass der Dämon, der ihn 30 Jahre nicht losließ, für immer hinter Gittern ist. "Vergessen wir all den Bullshit von wegen El Chapo, der Volksheld", sagt Riley. "Der Kerl ist ein Massenmörder, so schlimm wie Osama Bin Laden."

Jack Riley, ein kantiger Typ von 60 Jahren, hat El Chapo gejagt wie Kapitän Ahab den weißen Wal. In den 80er Jahren durchstreifte er als Undercover-Agent für die US-Drogenbehörde DEA die Straßen von Chicago. Die große Zeit des Kokains, der Partydroge der Yuppies. Doch plötzlich, gegen Anfang der 90er Jahre, flutete Heroin die Stadt, Riley begegnete in einigen Vierteln nur noch Zombies auf den Straßen. Er hörte von seinen Informanten zum ersten Mal den Namen El Chapo. Der Kurze.
Kaum etwas wusste man zu dieser Zeit über El Chapo bei der DEA. Riley recherchierte auf eigene Faust. "Er war ein Hurensohn von einem Logistiker. Sie nannten ihn auch El Rápido, der Schnelle, weil er es schaffte, innerhalb von 24 Stunden Drogen von Mexiko in die USA zu liefern. Und er war brutal wie kein anderer. Einmal hielt ich Fotos in den Händen, die mich bis heute verfolgen. Sie zeigten die Leichen von mexikanischen Polizisten, die El Chapo köpfen ließ. Je mehr ich erfuhr, desto klarer war mir: Ich muss ihn fassen."
Riley wurde per Transparent begrüßt
Riley ließ sich nach El Paso versetzen. Leitete dort das DEA-Büro und überwachte ein Drittel der mexikanisch-amerikanischen Grenze. Seinen Agenten sagte er: Ich habe nur ein Ziel - El Chapo unter Kontrolle bringen. Wenig später hing an einer Brücke gleich hinter der Grenze in Mexiko ein Transparent: "Willkommen, Jack Riley!"
Kurz darauf schickte El Chapo seine Männer. Zwei Autos verfolgten Riley auf einsamer Straße, es gelang ihm nicht, sie abzuschütteln. Er stoppte den Wagen, stürzte heraus, zog seine Pistole. Die Autos drehten um. "Die Nummer diente dazu, mich einzuschüchtern. Da habe ich mir geschworen: entweder er oder ich."
Riley brachte DEA, FBI und Polizei zusammen, um El Chapos Mittelsmänner in den USA zu jagen. Operation Strike Force. Die mexikanischen Behörden waren bereit, zu kooperieren. Die DEA überwachte Telefone und schickte Drohnen, um El Chapos Verstecke zu finden. Das mexikanische Militär stürmte sie. Einmal entkam er im letzten Moment durch einen Tunnel unter einer Badewanne.
2014 wurde El Chapo endlich gefasst, in einem Hotelzimmer im Badeort Mazatlán. Doch als Jack Riley gerade in den Ruhestand gehen wollte, da erfuhr er, dass El Chapo im Juli 2015 durch einen fast zwei Kilometer langen Tunnel aus seiner Gefängniszelle geflohen war. Riley tobte vor Wut. Und verschob seinen Ruhestand.
Narcos trifft man in den frühen Abendstunden
"Am Ende waren es Burritos und Pornos, die ihn zu Fall brachten. Im Januar 2016 erspähten ihn Fahnder, als er spätnachts eines seiner Verstecke in der Küstenstadt Los Mochis verließ. Als er zurückkam, stürmten mexikanische Marines das Haus, El Chapo war endgültig gefasst. Und in dem Moment, in dem er endlich im Flugzeug in die USA saß, bin ich in den Ruhestand gegangen", sagt Riley.
Doch er fragt sich bis heute: Was bringt der Schlag? Wie groß ist die Schwächung des Kartells wirklich?
Am ehesten trifft man Narcos in den frühen Abendstunden in einer düsteren Kapelle im Bahnhofsviertel von Culiacán an, der Hauptstadt des mexikanischen Bundesstaats Sinaloa. Es handelt sich um die Kapelle Jesús Malverde, benannt nach der mexikanischen Ausgabe Robin Hoods. Der Legende nach war Malverde ein Gangster, der Ende des 19. Jahrhunderts den Reichen Geld raubte, um es den Armen zu geben.

Überall an den Wänden hängen Fotos von Narcos und Kleinkriminellen, die sie in Gruppen und auf wilden Partys zeigen. Einige Drogengrößen haben sich in der Kapelle bereits Wandgräber gesichert, andere haben goldene Tafeln des Schutzpatrons der Narcos aufgehängt, auf denen sie ihm danken und ihn um Unterstützung im Drogenkrieg bitten: "Danke an Gott und Jesús Malverde für die erhaltenen Gefälligkeiten."
Die eintretenden Männer tragen Baseballcaps, Goldketten und im Gesicht eine grimmige Kälte. Sie knien sich vor den Altar und zünden sich Zigaretten an. Sie sprechen nicht viel, auch untereinander nicht.
El Chapo in den Augen vieler: ein Unternehmer
Der Einzige, der ausführlicher Auskunft gibt, ist der Älteste, ein schlaksiger Kerl im orangefarbenen Hemd, und er trifft mit seinen Sätzen die aktuelle Stimmung in Sinaloa ganz gut: "El Chapo ist wie Malverde. Er nimmt den Reichen in den USA das Geld ab und investiert es hier. Baut Sportplätze. Schafft Jobs. Wir sind arm. Unsere Wirtschaft lebt davon."
Das ist El Chapo in den Augen vieler: ein Unternehmer. Ein Selfmademan. Mexikos größter Star. Um ihn geht es im Wahlkampf und in TV-Serien und wenn das Militär mobilisiert wird. Keiner hat das Image Mexikos je so geprägt wie er, kein Präsident, kein Fußballer.
Ein anderer Pilger sagt: "Chapos Produkte schaden hier keinem. Wenn die Gringos Drogen wollen, ist das ihr Ding. Nicht mal die Gewalt hier betrifft uns. Die Kartelle ermorden sich gegenseitig. Uns Bürger lassen sie in Ruhe."
Solche Sätze fallen oft, sie enthalten aber einen Trugschluss, urteilt der auf Kartelle spezialisierte Professor Martín Barrón vom Institut für Kriminologie in Mexico-City. "Es gibt sehr wohl Gewalt – gegen Polizisten etwa. Auch gegen das Volk. Im Fall der Morenos, Alliierter von El Chapo, verzeichnen wir 300 Verschwundene – Opfer der Narcos."
Nur wenige Menschen in Sinaloa äußern sich negativ über El Chapo, nicht in der Kapelle Malverde, nicht in den Industrievierteln, wo sein Geld gewaschen wird, schon gar nicht in den Armenvierteln, in denen viele, auch Minderjährige, für ihn arbeiten, als Halcones – Späher – und Punteros – Wachen. Sie wollen so sein wie er: ein Junge der Unterschicht, der zu einem der reichsten Mexikaner aufstieg und es dabei mit der Supermacht USA aufnahm.
Sein Leben bestand darin, andere Kartelle zu besiegen
Joaquín Guzmán Loera war mal einer wie sie, das älteste von sieben Kindern eines armen Bauern. Er verließ die Schule schon in der dritten Klasse, um seiner Familie bei der Ernte zu helfen, und absolvierte eine Ausbildung bei "El Padrino" Gallardo, dem Drogenboss des Guadalajara-Kartells. 1989, nach Gallardos Verhaftung, gründete El Chapo sein eigenes, nach seinem Heimatstaat benanntes Kartell. Fortan bestand sein Leben darin, seine Konkurrenten vom Juárez- und Tijuana-Kartell zu besiegen und die Schmuggelrouten zur US-Grenze zu beherrschen. Er operierte dabei mit einzelnen Zellen, ähnlich wie die Terrororganisation al Kaida. Er erstellte neue Routen nach Asien, Europa und Australien und erweiterte seine Geschäfte auf über 50 Staaten. Er schuf: einen multinationalen Konzern.
Die Stadt, das Essen, Autos und die Frauen
Zwar verbrachte El Chapo die meiste Zeit zwischen verschiedenen Ranches in seiner Heimatregion, der zerklüfteten Sierra Madre Occidental, wagte sich aber immer wieder in die Städte, angezogen von gutem Essen, schnellen Autos und heißen Frauen. Er war mit einigen davon verheiratet und zeugte mit ihnen mindestens ein Dutzend Kinder, hatte aber gleichzeitig mehrere Liebhaberinnen und besorgte sich nach Ermittlungen von DEA-Fahndern unzählige Prostituierte. "Er aß Viagra wie Bonbons", sagt einer.
Bei seinem ersten Gefängnisausbruch 2001 ließ er sich der Legende nach in einem Wäschekorb mithilfe bestochener Wachen aus dem Knast schleusen. Bei seinem zweiten Ausbruch aus dem Hochsicherheitsgefängnis Altiplano im Juli 2015 floh er durch einen Schacht unter seiner Dusche. Er fühlte sich fortan so sicher, dass er die Schauspieler Sean Penn und Kate del Castillo an einem geheimen Ort für ein Interview empfing und darin prahlte: "Ich habe eine ganze Flotte von U-Booten, Flugzeugen, Lastwagen und Schiffen. Keiner in der Welt liefert mehr Kokain, Heroin, Marihuana und Meth als ich."

Laut Professor Barrón stammen 60 bis 80 Prozent der Wirtschaftseinnahmen Sinaloas aus dem Drogenhandel. "Ganz Culiacán ist eine einzige Maschinerie der Geldwäsche: Bauunternehmen, Möbelgeschäfte, Autohandel, Landwirtschaft, selbst die Garnelenzucht."
In aller Öffentlichkeit lässt sich die Geldwäsche rund um den "Mercadito" beobachten im Zentrum Culiacáns. In den anliegenden Straßen sitzen bei 45 Grad Hitze Dutzende junger Frauen auf den Bürgersteigen unter breiten Sonnenschirmen. Sie winken den vorbeifahrenden Autos zu und schnipsen mit den Fingern nach Passanten. Sie erinnern an Prostituierte, sind aber einzig hier, um US-Dollar zu kaufen und zu verkaufen – Geldwäsche auf offener Straße, mitten am Tag, mitten in der Hauptstadt. Hier werden die Einnahmen aus dem Drogengeschäft gewaschen, geschätzte drei Milliarden Dollar pro Jahr.
Paläste, in denen die Narcos ihre Toten begraben
Noch offensichtlicher zeigt sich die Macht der Drogenbosse zehn Kilometer weiter südwestlich auf dem Friedhof Jardines de Humaya an der Bundesstraße 15 nach Mazatlán, wo El Chapo 2014 gefasst wurde. Es ist weniger ein Friedhof als eine Siedlung aus Palästen, in denen die Narcos ihre Toten begraben. Ausgestattet sind sie mit Kabel-TV, Klimaanlage und Sicherheitskameras, damit es die Toten im Jenseits weiterhin gut haben. Umgeben sind die Paläste von Terrassen für Grillfeste, damit Witwen, Kinder und Komplizen an Wochenenden weiterhin mit ihnen feiern können.

Hier, in einem Mausoleum so groß wie eine Villa, liegt auch Arturo Beltrán Leyva begraben, der Alliierte und spätere Konkurrent El Chapos. Er sagte sich 2008 vom Sinaloa-Kartell los und löste damit den Krieg zwischen den Syndikaten aus mit Tausenden Toten. "Das ist heute das eigentliche Thema", sagt Barrón, "viel wichtiger als die Verurteilung El Chapos: Werden sich die verfeindeten Söhne Guzmáns und Beltráns arrangieren? Sie sind Cousins. Sie haben denselben Großvater."
Der Kriminologe Barrón hat sich auf Narcos spezialisiert – wie Reporter, Musiker, Totengräber, Kapellenbauer, Polizisten. Eine ganze Industrie. Nach Barróns Einschätzung ist das Sinaloa-Kartell weiterhin das mächtigste in Mexiko, Marktanteil etwa 50 Prozent.
An der Spitze steht nun El Chapos langjähriger Kompagnon Ismael Zambada, 71, von dem viele Experten sagen, dass er schon immer der Führer war. "Zambada ist für die Produktion der Drogen zuständig", sagt Barrón. "Vertrieb, Verkauf und Exekution lagen in den Händen Chapos. Das machen jetzt seine Söhne Alfredo und Iván. Es ist ja ein Familienunternehmen. Die Macht ist ungebrochen."
Kein Porsches mehr: Narcos geben sich bescheiden
Ohne Guzmán jedoch haben sich einige Dinge geändert: Die Narcos fahren heute nicht mehr schwere Geländeautos – Cayenne und Hummer – wie noch vor fünf Jahren, sondern unauffällige Kleinwagen. Sie wohnen wegen des gestiegenen Fahndungsdrucks nicht mehr in üppigen Palästen, sondern kaufen sich kleinere Häuser in Mittelklassevierteln. Sie feiern auch ihre Feste nicht mehr so opulent, spielen dort keine "Narcocorridos" mehr – Balladen, die Mördern wie El Chapo gewidmet sind ("Der Mann der Berge"). Dennoch sind sie an jeder Straßenecke und jedem Eingang eines Viertels zu sehen. 50.000 Menschen sollen nach Angaben der Polizei vom Sinaloa-Kartell beschäftigt werden. Es ist damit der größte Arbeitgeber des Bundesstaates.
Die Jagd auf das Kartell erfolgt aus einem festungsartigen Gebäude außerhalb der Hauptstadt. Es wurde auf die grüne Wiese gebaut, umgeben von hohen Mauern. In der Mitte steht das runde Kommandozentrum C4I, in dem Spezialisten anhand Hunderter Kameras und Drohnen den ganzen Staat überwachen.
Unmittelbar neben dem C4I, in einem mit Souvenirs ausgestatteten Saal, empfängt Sinaloas Sicherheitsminister Cristóbal Castañeda zum Interview, ein Militär wie so viele in der Regierung. Zivile kämen für den Posten nicht mehr infrage, heißt es, sie seien zu korrupt. Das Sinaloa-Kartell war jahrelang so mächtig, dass Polizei und Politik es gewähren ließen und sich stattdessen nur Kleinganoven vorknöpften. "Damit ist es vorbei", sagt Oberstleutnant Castañeda bestimmt. "Wir haben 40 Prozent der Polizisten entlassen."
Waffen, mit denen man jeden Krieg führen könnte
Castañeda kommt frisch vom Einsatz. Seine Männer haben gerade ein Drogenlabor hochgenommen und vier Narcos gefasst, die sich nach Hinrichtung zweier Feinde in einem Haus verschanzt hatten. Er ist bei den Operationen immer dabei. Er trägt dann Stiefel und Waffen und schwarze Uniform, ein Outfit, das auch Todesschwadronen tragen könnten.
"Wir haben jede Menge Waffen konfisziert, Maschinengewehre, Granaten, mit denen man jeden Krieg der Welt führen könnte."
Es ist nichts anderes: Krieg.
Seit Castañeda an der Spitze steht, hat sich die Strategie geändert und – so sagt er – auch die Statistik. Er holt nun einige Tabellen heraus. Gab es vorher in Sinaloa bis zu 2000 Morde pro Jahr (mehr als in ganz Deutschland in acht Jahren), so seien es jetzt nur etwa 1000. "Wir waren vor einem Jahr noch die Nummer fünf in der Mordstatistik der Bundesstaaten. Jetzt sind wir gefallen auf Nummer 27", sagt er stolz. Nach Einschätzung vieler Experten ist das Schönfärberei. Barrón etwa sagt: "Traue keiner einzigen Statistik in Mexiko."
Castañeda zählt nun weitere Erfolge auf, die sich nur schwer verifizieren lassen: "50.000 Kontrollen pro Jahr, wir drängen den Feind in die Defensive." All dies geht zeitlich einher mit der Festnahme von El Chapo, "hat aber damit nichts zu tun", räumt er ein. "Wir haben einfach die Strategie geändert. Wir haben das Militär in den Staat geholt, Marines, Militärpolizei, demnächst die Nationalgarde."
Es klingt tatsächlich wie Krieg.
Sinaloa, so sagt der Minister, ist so etwas wie ein Versuchslabor für das ganze gewalterschütterte Land: Kann man mit der Entsendung von Militär und Bundestruppen den Kampf gegen das organisierte Verbrechen gewinnen? Kann man?
"Wir haben derzeit 4000 Leute", rechnet er vor. "Wir brauchten mehr als 10.000."
"Will man den Krieg gar nicht gewinnen?"
Viele wie Professor Barrón glauben: "Solange der mexikanische Staat kein Interesse daran hat, die Geldwäsche zu stoppen, wird sich nichts ändern. Von der profitieren alle: Abgeordnete, Gouverneure, Bürgermeister, auch die Herren Minister." Die Frage ist eher: Will man den Krieg also gar nicht gewinnen?
Sicherheitsminister Castañeda sagt es so: "Solange es die Nachfrage gibt, wird es auch das Angebot geben. Früher waren das Marihuana und Kokain, heute eher Crystal Meth und Fentanyl, synthetische Drogen."
Und als wolle er die Aussichtslosigkeit seines eigenen Kampfes untermauern, fügt er hinzu: "Vor Kurzem haben wir ein Drogenlabor ausgehoben. Da haben wir 14 kleine Kisten Fentanyl konfisziert. Wissen Sie, wie viel eine wert ist?"

Er macht eine dramaturgische Pause. "20 Millionen Dollar", sagt er, und damit liefert er die Erklärung für alles: für seinen eigenen Job, für den wirtschaftlichen Aufstieg Sinaloas, für die Mausoleen am Stadtrand, für die Träume der Kinder, für einen schier endlosen Krieg Mexikos mit Zehntausenden Toten und für den spektakulären Prozess eines kurzen, dicken Mannes in den Türmen von New York.
El Chapo wird in ein Hochsicherheitsgefängnis in Colorado überstellt, bekannt als "Alcatraz der Rockys". Niemandem ist es bisher gelungen, dort auszubrechen.