John Holmes ist das Bild eines englischen Gentlemans. Der Absolvent des Balliol College in Oxford vertrat die Königin als Botschafter in Portugal und Frankreich und ist seit Januar 2007 oberster Nothilfekoordinator der Vereinten Nationen. Wenn "Sir John" die Flutkatastrophe in Pakistan als größere Katastrophe als das Erdbeben in Haiti oder den Tsunami bezeichnet, hört die diplomatische Welt hin. "Ich will keine Rangliste der Katastrophen erstellen, aber das Unglück ist gewaltig", sagte Holmes im UN-Hauptquartier in New York. Und das Schlimmste ist nach Einschätzung der pakistanischen Meteorologiebehörde noch nicht überstanden.
Der Respekt vor den Opfern und nicht zuletzt auch vor der Arbeit der UN-Helfer verbiete Vergleiche, so Holmes. Das weltweite Leid - ausgelöst durch Erdbeben, Überschwemmungen, Wirbelstürme, Vulkanausbrüche und Kriege - ist nur zu bewältigen, wenn die Manager der Not nüchtern vorgehen. "So zynisch es klingt", sagt ein Mitarbeiter des UN-Büros zur Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA), "aber nach der Katastrophe müssen wir die Toten im wahrsten Sinne ganz schnell begraben, weil die Lebenden alle unsere Kraft brauchen".
Sechs Millionen brauchen sofort Hilfe
In den Trümmern Haitis starben mehr als 220.000 Menschen. Bei dem Tsunami im Indischen Ozean waren es sogar noch mehr. Dennoch bezeichnete OCHA-Chef Holmes die Flut in Pakistan, bei der die Zahl der Todesopfer zwischen 1200 und 1600 schwankt, als größere Katastrophe. Denn in Haiti hatten die OCHA-Leute drei Millionen Überlebende zu versorgen. Im Tsunami-Gebiet waren 1,1 Millionen Menschen obdachlos geworden. Pakistan stellt das in den Schatten: "Es sind jetzt sechs Millionen Menschen, die dringend unsere Hilfe brauchen", sagt Holmes.
Die Vereinten Nationen werben bei ihren 192 Mitgliedsstaaten um 459 Millionen Dollar (352 Millionen Euro) Soforthilfe. "Lassen Sie uns klarstellen", sagt Pakistans UN-Botschafter Abdullah Hussain Haroon, "die 12 bis 14 Millionen Opfer sind alle, die direkt von der Flut betroffen sind." Denn das Hochwasser sei auch eine wirtschaftliche Katastrophe. Allein in einer Provinz seien 96 Brücken zerstört, Straßen, Fabriken und Märkte weggespült worden. "Etwa 15 bis 20, vielleicht 25 Prozent der Ernte ist vernichtet. Wir rechnen damit, dass die Flut unser Bruttoinlandsprodukt um 1 bis 1,5 Prozentpunkte gedrückt hat."
"Es ist eine riesige Katastrophe"
Sechs Millionen Menschen seien in akuter Not: "Das sind Menschen, die erstmal sauberes Wasser und Essen und dann ein Zelt, medizinische Versorgung und sanitäre Anlagen brauchen. Und sie brauchen es jetzt", erklärt Holmes.
"Es ist schwierig, genaue und gleiche Schätzungen für alle Helfer zu liefern", heißt es beim Welternährungsprogramm in Genf. Die Kollegen hätten in verschiedener Regionen einen unterschiedlich guten Zugang zu den Flutopfern, deshalb die Abweichungen. "Sicher ist, dass mehr als zwei Millionen Menschen in einer sehr brenzligen Lage sind und ihr Leben ganz neu aufbauen müssen", sagte ein Sprecher vom Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (IKRK). "Es ist eine riesige Katastrophe, und es regnet weiter. Aber es ist auch schwierig, genaue Vergleiche zu früheren Katastrophen anzustellen."
Zweite Flutwelle rollt
Zumal die pakistanischen Behörden noch mit einer weiteren verheerenden Flut rechnen. Nach den Regenfällen im Norden zu Wochenbeginn rolle eine zweite Welle durch die zentralpakistanische Provinz Punjab und weiter nach Süden, so der Leiter der nationalen Meteorologiebehörde. Die Wassermassen ließen den Fluss Chenab anschwellen und könnten trotz aller Schutzmaßnahmen die Stadt Multan mit ihren rund 4,5 Millionen Einwohnern treffen. Das wäre die bislang größte von der Flut betroffene Stadt. "Die nächsten zehn Tage werden sehr entscheidend sein", so der Behörden-Chef. Ob die mehr als 350 Millionen Euro Soforthilfe, die die Vereinten Nationen von ihren 192 Mitgliedsstaaten forderten, in diesem Fall noch ausreichen werden, ist unklar.
Die Welthungerhilfe die deutsche Bevölkerung dringend um weitere Spenden für die Flutopfer in Pakistan. "Die Menschen vor Ort können nichts dafür, dass sie in einem schwierigen politischen Umfeld leben", teilte die Hilfsorganisation mit. "Sie benötigen unsere Hilfe dringender denn je zuvor." Die Überschwemmung in Pakistan stelle alle Helfer "vor eine Herausforderung von noch nie gekanntem Ausmaß".