Wie die meisten Menschen auf der Welt bin ich super in Sachen Selbstbeschiss. Ach, nur noch der eine Kartoffelchip/ das eine Glas Wein/die eine Folge "House of Cards", ist jetzt eh schon egal. Um dann am nächsten Morgen völlig gerädert und mit dicken Augen aufzuw ... nee, aufwachen sollte man das eigentlich nicht nennen. Kann man machen, klar. Kann man sogar ziemlich lange machen. Aber irgendwann kommt der Punkt, an dem sich das nicht mehr so toll anfühlt, wie es sollte. Es muss sich was ändern. Schlimmer noch: Ich muss mich ändern. Nur wie?
Indem man als Erstes mal beginnt, einen gnadenlosen Blick auf das zu werfen, was man da eigentlich treibt. Seit ein paar Wochen trage ich so einen schwarzen Ziegel am Arm, der misst, wie oft ich mich bewege, wie viel ich sitze, wie lange ich schlafe. Eine App verrät mir anschließend, dass ich beispielsweise am vergangenen Mittwoch 7 Stunden 50 Minuten gelegen habe (davon aber nur 5 Stunden 52 tatsächlich geschlafen), 11 Stunden 31 Minuten gesessen, 2 Stunden 51 Minuten gestanden, 1 Stunde 19 Minuten gegangen und 27 Minuten gelaufen bin. Was nicht stimmen kann, ich bin seit Herbst 2011 nicht mehr gelaufen. Aber vielleicht wertet mein Bewegungsmelder ja alles, was schneller als Schlendern ist, schon als Laufen. Nett von ihm. Zartfühlend. Menschen, die 11 Stunden 31 Minuten am Tag sitzen, muss man halt vorsichtig anfassen.
Selbstbeschiss: Was man nicht weglügen kann
Die Idee des Ziegels ist natürlich eine ganz simple: Was ich schwarz auf weiß habe, kann ich nicht weglügen. Es ist die Idee des Essprotokolls (12.30 Uhr: gemischter Salat mit Lachs, 17 Uhr: ganze Tüte Phantasia vom Beifahrersitz, 22.30 Uhr: Familienpackung Ben & Jerry’s Karamel Sutra, halbe Tüte Salzbrezeln, halbe Flasche Veltliner) und des Haushaltsbuchs: sich Rechenschaft über das abzulegen, was man so tut. Weil man es sonst nämlich nicht weiß. Oder verdrängt. Ich glaube, dass man einen erstaunlichen Anteil seines Lebens in partieller Bewusstlosigkeit verbringt, besonders wenn es um so potenziell unangenehme Dinge wie gesunde Ernährung, gesunde Geldanlage, gesundes Gesundheitsverhalten geht. Ich lese gerade das sensationell tolle "Panikherz" von Benjamin von Stuckrad-Barre und frage mich: Wie schafft es einer, sich minutiös an jeden Drogenexzess und jeden Dealerbesuch zu erinnern, wenn ich es nicht mal hinkriege, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wie oft ich meine Hand in der Chipstüte hatte?

Meike Winnemuth
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Gerade hörte ich im Autoradio ein Interview mit einer Finanzberaterin. Sie berichtete seufzend, dass ihre Kundinnen Stein und Bein schwören, kein Geld für die Altersvorsorge übrig zu haben, sich aber jeden Morgen auf dem Weg zur Arbeit einen "Frappuccino Java Chip Chocolate Cream, grande" für 4,85 Euro kaufen. "Die wenigsten Leute wissen, was sie tun“, sagte sie. „Und sie wollen es auch gar nicht wissen." Im Gegenteil: Wenn sie eine Ahnung davon haben, dann fangen sie nicht selten an zu tricksen. "Wenn man sich dabei ertappt, gewisse Sachen zu verstecken – leere Alkoholflaschen, Süßigkeitenvorräte, Frustshoppingkäufe, Schulden –, ist das immer ein Alarmsignal." Ich starre in meine Süßigkeitenschublade ganz unten und seufze.
Gut. Ich werde beginnen, Zeugnis abzulegen. Meine Verfehlungen zu dokumentieren. (Nicht hier natürlich, ich bin ja nicht bescheuert.) Schluss mit der Unzurechnungsfähigkeit! Klarheit, Wahrheit, brutales Bilanzieren! Natürlich ist so eine Inventur erst der Anfang, beichten allein genügt nicht. Aber bevor ich was ändern kann, muss ich erst mal rausfinden, was ich hier verdammt noch mal eigentlich mache.